: Ich bin fassungslos
■ Offener Brief an die Grünen
Ich habe Euch gewählt, weil ich von Euch eine menschenwürdigere alternative Politik erwarte. Jetzt erlebe ich, daß Ihr die einschneidenden Einsparungen im sozialen Bereich mitvertretet. Von der SPD habe ich es nicht anders erwartet, aber daß Ihr — mit meiner Stimme — der SPD die breite Mehrheit verschafft, bei den Ärmsten und Benachteiligsten unserer Gesellschaft einzusparen, das habe ich nicht gewollt und dafür habe ich Euch nicht gewählt.
Ich bin seit fast 16 Jahren Sozialarbeiterin; die ganze Zeit habe ich miterlebt, wie im sozialen Bereich eingespart wurde und soweit meine Kraft reichte, dagegen gekämpft. In dem Haus, in dem ich arbeite, sollen die Kinder, Jugendlichen (aus kinderreichen Familien) und Erwachsenen demnächst eventuell Gebühren dafür zahlen, daß sie in den Genuß Sozialer Gruppenarbeit kommen, d. h. sie sollen für ihre Unterstützung, Förderung und den Abbau ihrer sozialen Defizite Geld bezahlen.
Gleichzeitig werden Mittel für Soziale Gruppenarbeit gekürzt, besteht Einstellungsstop für Honorarkräfte — und für festangestellte Sozialarbeiter sowieso. Berufspraktikanten soll es in Zukunft wahrscheinlich auch nicht mehr geben.
In unserer Abteilung beträgt das Durchschnittsalter der KollegInnen bereits jetzt 43,5 Jahre. Da in den nächsten beiden Jahren im Bereich Soziales 100 weitere Stellen eingespart werden sollen, werden wohl die, die nicht in Frührente gehen, hier einsam vergreisen.
Die neue Ressortzuschneidung des Bereiches Soziales; d. h. die Herauslösung der Zielgruppe Jugendliche oder eines Teiles davon aus dem Amt für Soziale Dienste findet aufgrund Eurer Initiative — der jetzigen Senatorin Frau Dr. Trüpel-Rüdel statt.
Ich bin fassungslos. Jahrelang haben sich die KollegInnen mit der Neuorganisation der Sozialen Dienste befaßt, eine teure Organisationsuntersuchung wurde durchgeführt und die Umsetzung ist weiß Gott nicht allen Kollegen leicht gefallen; denn Arbeitsgruppen und Sachgebiete mußten im Interesse der Fachlichkeit neu zusammengestellt werden, KollegenInnen mußten sich umorientieren.
Mit der Herauslösung der Zielgruppe Jugendliche aus dem Amt für Soziale Dienste gibt man Prinzipien der Neuorganisation auf, z. B. Jugendförderung und -fürsorge näher zusammenzubringen, ignoriert jahrelanges Bemühen von KollegInnen , Sozialarbeit und deren Organisationaformen zu verbessern. Und das nur aus machtpolitischen Gründen!
Ihr — die Grünen — habt Euch auf die Ebene der Machtpolitik begeben und dabei gehen die Ziele für eine menschenwürdige alternative Politik verloren. Ich bitte Euch, macht Euch frei von machtpolitischen Gesichtspunkten! In diesem Falle heißt das, laßt den Sozialabbau und Stellenklau im sozialen Bereich nicht zu!
Beklagt Euch ansonsten in knapp 4 Jahren nicht darüber, daß die Wählerzahl der Rechtsradikalen weiter angestiegen ist. Wenn Ihr Kürzungen im Sozialbereich bei den Ärmsten mittragt, habt Ihr auch die Zunahme von Rechtsradikalismus mitzuverantworten.
Verspielt doch nicht so leicht meine Hoffnungen und die anderer WählerInnen der Grünen, daß mit Euch eine menschenwürdige alternative Politik möglich ist!
Christel Atlas-Klingenberg
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