Ritus und Alltag

■ Marc Schepers im Künstlerhaus Bethanien

Das Künstlerhaus Bethanien ist aus dem innovativen Kunstbetrieb Berlins nicht mehr wegzudenken. Seit langem gelten das internationale Atelierprogramm aber auch die übrigen Wechselausstellungen als Forum junger Künstler und als Sprungbrett zu größerer Bekanntheit. Eine selbst für das an Ereignissen reiche Bethanien außergewöhnliche Unternehmung führt der Belgier Marc Schepers derzeit unter dem Titel Memory Room im Studio 227 durch.

Memory Room ist ein Projekt gegen das Vergessen, gegen den Reibungsverlust, die »Entropie des Wissens«. Diese geht einher mit dem in allen gesellschaftlichen Bereichen zunehmenden Spezialistentum. Ein Mensch mit universaler Bildung ist unmöglich geworden. Den letzten, schon damals fehlschlagenden Versuch, eine allumfassende Weltsicht wiederzugeben, stellt die 1929 erschienene Encyclopedia Britannica dar. In der Flut der Neuigkeiten ist es heute um so wichtiger, zumindest die enzyklopädischen Techniken zu trainieren, die Memorisierung, die Gedächtnisarbeit.

Das Memory Room Projekt ist in sieben in sich geschlossene Phasen aufgeteilt und als durchgehend zugängliche Langzeitausstellung eingerichtet. Bis Ende Mai kann man auch bei verschlossener Türe das Geschehen im Inneren verfolgen.

Schepers, der wie die meisten anderen zahlenden Gäste des Bethanien in seinem Atelier gleichzeitig wohnt und experimentiert, stellt nicht eine Anzahl einzelner, isolierter Werke aus, sondern den Raum als Ganzes. Der Künstler arbeitet nicht in, sondern mit seinem Atelier. Er verwandelt es in ein mit einer Sprache vergleichbares, abstraktes Zeichensystem.

An den Wänden kleben Tesabandstreifen und ergeben mysteriöse Linien, Kreuze und Quadrate. Dazwischen hängen blanke, zu Rechtecken oder Viertelkreisen gefaltete Bögen Packpapier. Im Raum verteilt stehen einfache geometrische Körper, Würfel, Quader, dünne Holzplatten. Schepers Atelier wirkt so auf den ersten Blick wie ein begehbares Gemälde von Malewitsch oder Kandinsky, wobei die Formen als Teil einer Komposition wirken, die den Raum zum dreidimensionalen Bild macht. Der Sinn hinter Schepers Installation geht aber weit über die — natürlich auch mögliche — äußerliche Betrachtung hinaus.

Die geometrischen Kompositionselemente sind Ausdruck der Suche nach einer stringenten, lesbaren Kunstsprache, mit der sich die komplexen Bezugssysteme in seiner Arbeit einheitlich formulieren lassen. Ursprünglich, so Schepers, sei die Geometrie nicht allein rechnerisches Hilfsmittel, sondern Symbolträger gewesen. Der Belgier versteht die Zeichen, die er verwendet, als Indizien einer steten Metamorphose, als Teil einer abstrakten, durch die Verbindung der in ihr wirkenden Gegensätze einer Kosmologie nahekommenden Erzählung. In ihr vereinen sich von außen einbrechendes Licht und Verdunkelung, Immaterielles und die konkrete Form, Ritus und Alltag.

Zu Beginn der Präsentation hatte Schepers die beiden Fenster seines Ateliers mit Packpapier verklebt. Der Raum blieb leer, und an den Wänden waren quasi als programmatische Ankündigung für das noch Folgende Zeichnungnen eines ineinandergreifenden Räderwerks angebracht. Nach etwa vier Wochen nahm der Künstler die Blenden von den Fenstern und verteilte die Papierabschnitte, die zuvor den Raum verdunkelt hatten, über die Wände.

Die Außenwelt brach in den Innenraum. In jener zweiten Phase markierte Schepers die Linien, die sich durch die nächtliche Beleuchtung des Mariannenplatzes an den Wänden abzeichneten. War der Raum in den ersten beiden Entwicklungsstufen noch leer, so begann in der dritten Phase die dreidimensionale Gestaltung. Zu den Linienkonstellationen gesellten sich skulpturale Pendants.

Die additive Vorgehensweise mündet aber trotzdem nicht in Beliebigkeit. Am Eingang zu seinem Atelier — dort, wo sonst das Namensschild eingesteckt wird — hat Schepers, als handle es sich um ein Motto, ein Kreuzworträtsel angebracht. So wie sich dort das eine Lösungswort aus dem anderen ergibt, ist in der Installation jede scheinbar frei komponierte Form über festgelegte Bezugspunkte und Entsprechungen mit dem Vorhergehenden verbunden. Der Arbeitsraum wird zu einem dreidimensionalen Buch, in dem der Künstler die Seiten umblättert. Die zurückliegenden Teile dieses Folianten sind nur noch über die wenigen Indizien, die gesunde Neugier und die Erinnerung der Besucher rekonstruierbar. Bald wird wieder eine Seite in Schepers »Raumbuch« umgeschlagen: Am Montag, dem 10. Februar, beginnt die vierte Phase. Ulrich Clewing

In noch vier Abschnitten bis Ende Mai, Studio 227, Künstlerhaus Bethanien, durchgehend sichtbar