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Kulissen wie im Ritterfilm

■ Mit der Fotografin Virginia durch die galicische Stadt Santiago de Compostela

Mit der Fotografin Virginia durch die galicische Stadt Santiago de Compostela

VONTOBIASBÜSCHER

Auf der Plaza de la Quintana hat der Regen langsam nachgelassen. Die ersten Sohlen klappern wieder auf dem nassen Granit vor der Ostseite der Kathedrale. In einem Café unter Steinarkaden sind Verdis Vier Jahreszeiten längst beim Winter angelangt. „Otro café con leche, por favor.“ Noch einen Milchkaffee, bitte — und warten. Zwischen dem Konvent San Pelayo und der Kathedrale stellt eine Souvenirverkäuferin den kleinen Wagen wieder auf. Jakobsmuscheln, Weihrauchkessel aus Plastik, Sonnenbrillen, die sie heute nicht verkaufen wird. Gestern lief das Geschäft besser. Ein Blasorchester hatte unter praller Sonne zahlreiche Neugierige angezogen, während sich ein paar Jugendliche mit Heavy- Metal-Stickern die Ohren zuhielten. Vor dem Pilgerbüro gleich neben dem „Heiligen Tor“ der Kathedrale waren mehrere Montainbikes abgestellt. Der junge Priester, der die Pilger nach wochenlanger Reise in seinem Büro empfängt, stellt heute niemandem Urkunden aus. „Ein Sauwetter, oder?“ — „Kann sein“, antwortet der Kellner und knallt die Rechnung auf den Messingtisch. Während der Zucker in die Tasse plumpst, muß ich lächeln. Warum auch immer den tröstenden Spruch wiederholen, den die Compostelaner zum Slogan gemacht haben: „In Santiago ist der Regen Kunst.“

Auf der Plaza, wo einst der Friedhof lag, warte ich auf die Fotografin Virginia. Ich erinnere mich an Gesprächsfetzen mit ihr über den Ruf der Galicier, besonders der Compostelaner. Zitierte Vorurteile im „verlorenen Paradies“ beim Portwein letzte Nacht: Santiago sei nicht nur die spanische Stadt mit den meisten Niederschlägen und der beachtlichsten Kathedrale, sondern auch der meisten Gemütskranken. Oder in Sachen Undurchschaubarkeit: Wenn man einem Galicier auf der Treppe begegne, wisse man nicht, ob er hinauf- oder heruntergehe. Dann aber Erinnerungen an galicische Lebensfreude. An die kubanische Salsa- Sängerin Celia Cruz, die sich während des Konzerts vor der Kathedrale plötzlich tanzend in den Armen eines Studenten wiederfand. An das Eintopffest im nordwestlichen Cee, als dreitausend Bewohner aus einem riesigen Metallpott den galicischen Cocido aus Wirsing, Kartoffeln und Blutwurst verspeisten. An das Wildpferdtreiben im Bergdorf Amil, als wir den Bauern Manuel kennenlernten und mit ihm vom jungen Pais- Wein blaue Zungen bekamen.

Virginia hatte noch gemeint, die Galicier seien praktischer als etwa die Andalusier: „Wir stechen eben weniger Tiere ab und melken dafür mehr Kühe.“ Und dann hatte das Paradies zugemacht.

Ein leicht plätschernder Jazz löst Verdi ab. Weniger Kunden sind im Café, einige blättern in den Lokalzeitungen, die schon seit einiger Zeit neben Waldbränden und Schmuggel an der Küste ein umstrittenes Thema kommentieren: 1993 ist wieder ein „Heiliges Jahr“, weil der 25. Juli auf einen Sonntag fällt. Der 25. Juli ist der Tag des Apostel Jakob, Schutzheiliger im Kampf gegen die Mauren, Symbol der spanischen Reconquista und Patron von Santiago de Compostela. Der Papst wird kommen, und mit ihm geschätzte sieben Millionen Besucher. Nach der Olympiade in Barcelona, der Weltausstellung in Sevilla und Madrid als Kulturhauptstadt erwartet auch Santiago einen Besucherboom. Ob die 85.000-Einwohner-Stadt eine solche Masse aushalten kann, fragen sich die Kolumnisten und zitieren erfreute Geschäftsleute und entsetzte Bewohner.

Am Ende des Platzes saust Virginia mit wetterfester Lederjacke die Steintreppe herunter. Ein flüchtiger Kuß rechts und links, da war noch ein Fototermin, jetzt hat sie frei. Also los. Ein Spaziergang mit ihr durch die Gassen aus nassem Granit, den die Laternen in ein goldenes Licht tauchen. Durch die Altstadt aus Stein, ohne Pflanzen und Bäume. Im Zentrum, das für jeden Ritterfilm herhalten kann. „Hola, qué hay“, die Fotografin grüßen alle, ob Schuhverkäufer, Kanoniker, Nonnen oder Berber. Seit Jahren sind die Bewohner und die Szenen vor Steinkulissen ihre Motive. In ihrer Fototasche steckt das wichtigste Objektiv für diese Stadt: der 20-mm-Weitwinkel. Das Stadtbild erfordert es, auf dem Hauptplatz Obradoiro vor der gewaltigen Barockfassade der Kathedrale genauso wie in den schmalen Gassen.

Eine heißt „Entrerúas“, so eng, daß man mit aufgespanntem Regenschirm kaum durchkommt. Hier liegt die Szenekneipe „La Tulla“, wo wir ihre Freunde treffen. Den Zeichner Agustin und die Studentin Cruz. Es riecht nach frischem, marokkanischem Hasch. Bei ein paar Tapa- Häppchen aus Herzmuscheln und Sardinen geht es um Fotojournalismus. Und der dreht sich in Santiago besonders um die Kathedrale, das Parlament und die Universität. Virginia liebt wenig die Pflichtthemen, etwa wenn der spanische Prinz in einem Meer von blitzenden Kollegen die Messe in der Kathedrale besucht. Ein reizvolleres Thema sei der Bettler mit der Aura des Glöckners von Notre Dame vor der himmelstürmenden Fassade aus dem 18.Jahrhundert. Oder die beiden Reinigungsfrauen der Kathedrale, die zu zweit den Staub des 97 Meter langen und 65 Meter breiten Bodens fegen. Oder vor dem Kirchenschiff die Demo gegen das Verbot der privaten Schnapsherstellung. Oder das zwölfjährige Mädchen, das in einer Seitenkapelle den heiligen Judas Tadeo bittet, endlich mal den richtigen Traumprinzen rüberzuschicken. Oder der Student, der einer Jesusfigur einen Zettel in die Hände legt: „Mach, daß ich mein Examen in Linguistik bestehe.“

Die Kathedrale ist Dreh- und Angelpunkt, Herz und Seele Santiagos. Sie gilt als Glanzstück romanischer, aber auch barocker Bauweise. Im 9. Jahrhundert gegründet, war die Stadt des Heiligen Jakob (Sant-iago) mit ihrer Kathedrale dreihundert Jahre später neben Rom und Jerusalem zu einem wichtigen Wallfahrtsort geworden. Zum geistig-kulturellen Zentrum Europas. Heute, glauben Agustin, Cruz und Virginia, sei sie weniger bekannt als die Hauptstadt von Chile, der sie ihren Namen gab. Aber das religiöse Leben ist noch auf Schritt und Tritt erlebbar: in Monasterien, Restaurationsläden von Heiligenfiguren oder — verklärt — in den Souvenirläden, die im Sommer den Apostel als Plastikminiatur unter die videoschwenkenden Touristen bringen.

Zum Parlament, wo Virginia immer wieder das „feiste, fleischige Gesicht“ des konservativen Regierungschefs Manuel Fraga ablichten muß, aber auch zur Universität, wo über 30.000 Studenten eingeschrieben sind, kommen wir nicht mehr. Agustin ist schon weg und hat unbemerkt die Rechnung bezahlt. Cruz hat noch eine Verabredung, und auch wir wechseln die Kneipe. Schnell, wie hier üblich. Im „Momo“ will Virginia die deutsche Kneipenkultur erklärt haben und bricht plötzlich in schallendes Gelächter aus: „Im Ernst, ihr habt Stammtische?“ Und schon sind wir wieder draußen.

Santiago im Winter. Im Sommer waren die Straßen tagsüber voller „guiris“, wie die Compostelaner spöttisch ihre Stadtbesucher nennen. Und nachts waren die wenigen jüngeren Leute in die Neustadt zu den Neon-Discos gezogen. Damals war Santiagos Altstadt bei Nacht etwa so, als habe man sich in ein geschlossenes Stein-Museum verirrt. Inzwischen ist sie wieder eine Studentenstadt geworden. Und ihr Zentrum ist proppevoll. Unter den Kneipen heißen zwei „Paris“ und „Dakar“; so wird auch eine Sauf-Rallye vorbei an zig Theken benannt. In Virginias Sucher sind dann schon mal besoffene Akademiker, die Straßenschilder abmontieren, und demonstrierende Anwohner, die wegen des Lärms Plakate gemalt haben.

Menschenleer dagegen ist es wieder auf der Plaza de la Quintana. Das Café hat schon lange zugemacht, kein Jazz, kein Verdi ist zu hören, nur das Echo unserer Schritte auf dem weiten Platz. Auf eine der Kathedralenmauern projiziert das Licht einer Laterne einen Schatten wie den eines Pilgers mit Stab. Ach ja, die sieben Millionen Besucher im Juli 1993 zum Jakobustag: Cruz und Agustin werden verschwinden. In die Hafenstädte La Coruna oder Vigo vielleicht. Virginia muß bleiben. „Das ist halt mein Job.“ Zwei flüchtige Abschiedsküsse, und sie saust die Treppe wieder hinauf. „Wenn man einem Galicier auf einer Treppe begegnet...“, von wegen!

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