: Zurück in die Steinzeit
Markus Wasmeier belegte bei der olympischen Abfahrt von Val d'Isère nur den verhaßten vierten Platz/ Überraschungssieg für den Österreicher Patrick Ortlieb ■ Aus Val d'Isère Matti Lieske
Wer einmal mit dem Auto durch die Berge gefahren ist, weiß, was ein zehnprozentiges oder ein fünfzehnprozentiges Gefälle ist. Man stelle sich also eine Neigung von 15 Prozent vor, setze sie ins Verhältnis zu einem 90-Grad-Winkel und vervierfache sie in Gedanken einfach. Dann hat man ungefähr das, was ein Skifahrer im Starthäuschen der Olympiaabfahrt von Val d'Isere vor sich sieht. 61 Prozent Gefälle besitzt der Startschuß, im Ziel sind es sogar 63 Prozent. Dazwischen liegen viele gemeine Kurven und wilde Sprünge bis zu 70 Metern.
„Da kommt nie einer runter“, hatte der Schweizer Bernhard Russi, Olympiasieger von Sapporo 1972 und Konstrukteur von Abfahrtsstrecken, spontan ausgerufen, als ihm Jean-Claude Killy vorschlug, am Hang der „Bellevarde“ die Olympiaabfahrt zu konstruieren. Ähnlich äußerte sich Weltmeister Hansjörg Tauscher, als er das fertige Produkt — „La Face de Bellevarde“— zum erstenmal sah. Das „Gesicht“ erschien dem Oberstdorfer als teuflische Fratze. „Da fahre ich nicht runter“, erklärte er kategorisch. Das Entsetzen über das, was Russi da in den Berg gekerbt hatte, war einhellig. „Ein Kitzbühel von oben bis unten, nur ohne leichte Stellen“, urteilte Sepp Messner, Sicherheitsbeauftragter des Internationalen Skiverbandes (FIS) über die 3.048 Meter lange Strecke.
Doch während die gefürchtete „Streif“ von Kitzbühel nur ein durchschnittliches Gefälle von 30 Prozent aufweist, hat „das Gesicht der Bellevarde“ 37 Prozent. Bernhard Russi verwahrte sich gegen solche Kritik. Er habe keineswegs eine „Todesstrecke“ gebaut, sondern seine „bisher anspruchsvollste und vollkommenste Abfahrt“. Die engen Kurven würden für Tempodrosselung sorgen und damit die Gefahr vermindern: „Der Leichtsinnigste wird nicht gewinnen.“
Aber nur einer liebte die technisch äußerst anspruchsvolle Strecke von Anbeginn: Markus Wasmeier. „Russi hat eine Strecke für Wasmeier gebaut“, grantelten die Österreicher, und auch Altmeister Karl Schranz war nach den glänzenden Trainingsfahrten des Schlierseers beeindruckt: „Bist narrisch. Der fährt eine sauheiße Linie.“ Unversehens war Wasmeier in die Rolle des Olympiafavoriten geschlüpft, was ihn nach eigenen Angaben überhaupt nicht juckte. Nur Vierter wollte er auf gar keinen Fall werden.
Ein besonderer Clou der Olympiastrecke ist ihre Übersichtlichkeit. Russi hat sozusagen die erste Ganzkörperabfahrt der Skigeschichte geschaffen, fast 80 Prozent sind vom Zielraum aus einsehbar. So ging ein Raunen durch die Menge, als ganz oben ein rasender kleiner Punkt auftauchte, der sich alsbald als Patrick Ortlieb herausstellte. Schon vor einigen Wochen in Garmisch-Partenkrichen hatte der Österreicher die Startnummer 1 gehabt, war hervorragend gefahren und hatte sich bereits ausgiebig als Sieger feiern lassen. Da aber kam Markus Wasmeier mit der Startnummer 38 und schnappte ihm den Sieg noch weg.
Diesmal brauchte Ortlieb, der im Ziel zufrieden die Faust gen Himmel reckte, nicht solange auf den Schlierseer zu warten. Der kam gleich hinterher. Und er war langsamer. Der Traum vom Gold war für Wasmeier schon nach vier Minuten der olympischen Abfahrt ausgeträumt.
Richtig spannend wurde es dann erst wieder bei Startnummer 12. Franz Heinzer war gestartet, der Seriensieger der vorolympischen Wochen. Doch er war zu schnell, wurde hinausgetragen und kam nur auf den sechsten Platz. „Da brauchst Tabletten, sonst wird dir schlecht“, hatte der Österreicher Günther Mader über die Abfahrt gelästert. Offensichtlich hatte er die richtigen Pillen: Mit Startnummer 14 fuhr er auf den zweiten Rang, für Wasmeier war die Bronzezeit angebrochen.
Es begann das Warten auf die Meister der Kurven, Marc Girardelli und Paul Accola — und auf den Lokalmatador: Franck Piccard. Der hatte sich zwei Jahre lang vorbereitet und war die Bellevarde so oft hinuntergefahren, daß er jeden Eiskrümel mit Namen kannte. Nachdem Girardelli zum diebischen Vergnügen des feixenden Ortlieb ausgeschieden war, raste Piccard zu Tal, hatte glanzvolle Zwischenzeiten und verfehlte Ortliebs Bestzeit nur um ganze fünf Hundertstel. Dem Österreicher hüpfte das Herz aus der Hose wieder an seinen angestammten Platz, und Wasmeier ließ den Kopf hängen. Zurück in die Steinzeit, hieß es für ihn, ausgerechnet der verabscheute vierte Platz war sein Schicksal.
Als auch der Schweizer Accola ein Tor verfehlte, sank Patrick Ortlieb erleichtert nieder. Nun hatte er nur noch Martin Bell zu fürchten, doch der Brite wurde mit über vier Sekunden Rückstand 29. Patrick Ortlieb durfte endgültig jubeln, hatte aber dennoch auch nach seinem Sieg kein gutes Wort für Bernhard Russis Schöpfung: „Ich hoffe, daß ich auf dieser Strecke nie wieder ein Rennen fahren muß. Es ist zu wenig spektakulär, nichts, wo man sich überwinden muß — es war einfach alles zu langsam.“
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