PRESS-SCHLAG
: Die Magie der Zeremonie

■ Eröffnungsfeier der XVI. Olympischen Winterspiele

Einer der tiefverwurzeltsten Triebe des Menschen ist der zur Zeremonie. Anders ist es kaum zu erklären, daß die Eröffnungsfeiern neben den Endspielen immer die ersten Veranstaltungen sind, für die es keine Karten mehr zu kaufen gibt. Dabei sind sie meist stocklangweilig. Viel Schall, viel Rauch, jede Menge bunter Firlefanz und Menschen, die sich tanzend, hüpfend, schreitend oder fliegend umherbewegen. Nett anzusehen, aber belanglos und austauschbar. Wäre da nicht die Magie der Zeremonie. Der langwierige Einzug der Athleten, der Auftritt eines salbadernden IOC-Präsidenten, ein schlaffer Staatschef, der die Spiele „für eröffnet“ erklärt, das Hereinschleppen der Olympischen Fackel, das Entzünden des Olympischen Feuers, der Olympische Eid, möglichst gestottert — das ist es, was die Leute zum Auftakt Olympischer Spiele sehen wollen.

Die Organisatoren der XVI. Winterspiele hatten dem ewigen Einerlei im eigens für diesen Anlaß konstruierten Zeremonienstadion von Albertville zwei Komponenten hinzugefügt: die Kälte und den Optimismus. Es zeugt schon von einer gewissen Dreistigkeit, eine Winterolympiade in einem Freiluftstadion zu beginnen. Doch weder Schneefall noch Regenschauer netzten die kostbaren Häupter der Ehrengäste und die profanen Schädel des gemeinen Volkes, nur der grimme Frost kroch allen in demokratischer Eintracht ins Gebein.

Zur Begrüßung erschienen zwei abenteuerlich gewandete olympische Conferenciers, die direkt „Peterchens Mondfahrt“ entsprungen schienen, dann ertönte hektisches olympisches Glockengeläut, und schon brausten die Tiefflieger der „Patrouille de France“ heran. Anstatt jedoch, wie von den meisten erwartet, zünftig zusammenzukrachen, beschränkten sie sich darauf, olympischen bunten Rauch auszustoßen und diskret in die nicht- olympische Ferne zu entschweifen. Es folgte, vermutlich, um die olympischen Wettergötter psychisch in die Zange zu nehmen, ein Auszug aus Bachs Das wohltemperierte Klavier, gefolgt von der unvermeidlichen Ode an die Freude Beethovens, die zeitgeistgerecht zur Music of Europe umgetauft wurde.

Dann kam schon der Höhepunkt der Show: Der Einmarsch des Staatspräsidenten Mitterand an der Seite von IOC-Präsident Samaranch und den beiden Olympia-Organisatoren Barnier und Killy, das Ganze wirklich und wahrhaftig begleitet von der Musique de poche des Komponisten Joseph Racaille. „Westentaschenmusik“ zum Einmarsch der obersten Olympier, welch göttlicher Gedanke. Keine Frage, die erste Goldmedaille von Albertville geht an jenen boshaften Menschen, der sich diese feinsinnige Sequenz ausgedacht hat.

Es folgte der Einmarsch der Teams. Jeder Mannschaft schritt eine arme Frau voraus, die man vermutlich irgendwo eingefangen und gezwungen hatte, mit dem Oberkörper in eine Glaskugel zu kriechen und darin Schneeflocken umzurühren — ein klarer Fall für amnesty international. Der griechische Biathlet Athanassios Tsakiris schleppte die erste Fahne herein, der Franzose Fabrice Guy die letzte, dazwischen fiel vor allem auf, daß Dänemarks Robbenfelle ungeschoren davonkamen und daß sich gleich drei Teams im genuinen Al-Capone-Look mit schwarzem Mantel und schwarzem Hut präsentierten: die Italiener natürlich, vor denen Alberto Tomba etwas linkisch mit der Fahne wedelte, Australien und Andorra.

Besondere Aufmerksamkeit genoß das „Vereinte Team“ der GUS, in dem ein kleiner Mann mit Glatze herausstach, der nicht die Einheitskluft, sondern eine alte Trainingsjacke mit den riesigen Lettern „CCCP“ trug. Die Vermutung eines Zuschauers: „Das ist Gorbi“, konnte bis Redaktionsschluß nicht erhärtet werden.

Nach dem zähen Defilee der Athletinnen und Athleten kam wieder Leben in die Bude: Ein gewisser Reverend Schmutz intonierte mit seinen Alphornbläsern einen etwas schrägen „Alpensegen“, während die Vertreter des älpischen bewaffneten Kampfes — acht Alpenjäger, zwei Feuerwehrleute, zwei Gendarmen und zwei Polizisten — die Olympische Flagge hereintrugen. Auch sie konnten jedoch nicht verhindern, daß im nächsten Moment Stargast Michel Platini mit der Olympischen Fackel auftauchte und sie zentimetergenau einem kleinen Kind zupaßte, das seinerseits einen Feuerball nach oben jagte. Als dieser noch unterwegs war, loderte in einer Art Grammophontrichter bereits das „Olympische Feuer“ auf, das damit eindeutig als Fälschung entlarvt war.

Als die Eisläuferin Surya Bonaly den Olympischen Eid gesprochen und eine Elfjährige die Marseillaise gesungen hatte — wiewohl die meisten auch in dieser Rolle viel lieber Platini gesehen hätten — war der zeremonielle Teil beendet, und die Unterhaltung konnte beginnen: tanzende, hüpfende, fliegende und schreitende Menschen, dazu Musik von Leuten wie Camille Saint- Saens und Dead Can Dance, ein futuristisches Spektakel, das den überforderten 'dpa‘-Korrespondenten zu der existentiellen Frage veranlaßte: „An Drahtseilen hängende Skiflieger, Menschen-Mobiles an Stahl-Konstruktionen im Wechselspiel mit Alphorn und Akkordeon— was will Olympia der Welt damit sagen?“ — „Bescheid“, vermuten wir einfach mal. Matti