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Der „blutige Freitag“ ist nicht zu Ende

■ Algerische Machthaber schließen FIS-Hauptquartier/ Gerüchte über bevorstehende Verhängung des Ausnahmezustandes/ Seit Freitag mehr als 40 Tote und 300 Verletzte/ Weitere Verhaftungen

Algier/Paris (afp) — In Algerien hat sich die Krise am Wochenende weiter verschärft. Bei den Zusammenstößen zwischen Anhängern der Islamischen Heilsfront (FIS) wurden nach Angaben von Ärzten seit letztem Freitag mehr als 40 Menschen getötet und etwa 300 verletzt, viele von ihnen schwer. Eine offizielle Bilanz nannte die Zahl von mindestens 30 Toten und mehr als 200 Verletzten. Der Präsident des Hohen Sicherheitsrates, Mohamed Boudiaf, bestellte am Sonntag die Führer von acht politischen Parteien ein. In Algier wurde vermutet, daß der Hohe Staatsrat den Ausnahmezustand verhängen würde. Er war zuvor unter Leitung von Staatschef Boudiaf zusammengetreten, um über weitere Maßnahmen zu beraten.

Gerstern vormittag riegelte die Polizei den Sitz der FIS ab. Augenzeugen zufolge wurden sechs Anhänger, die sich in dem Gebäude aufhielten, verhaftet. Kurz zuvor war der Imam der Rahma-Moschee, die in der Nähe der FIS-Zentrale steht, festgenommen worden. Nach nicht bestätigten Meldungen der Medien soll die FIS möglicherweise verboten werden.

Nach den blutigen Unruhen vom Freitag im Anschluß an die traditionelle Freitagsgottesdienste machte die Polizei auch am Samstag wieder von ihren Schußwaffen Gebrauch und setzte Tränengas gegen demonstrierende Anhänger der Islamischen Heilsfront ein. Allein in Batna, wo sich in der vergangenen Woche die meisten Auseinandersetzungen abspielten, wurden nach amtlichen Angaben 15 Menschen getötet. In Constantine protestierten am Sonntag Radioberichten zufolge mehrere hundert Islamisten vor dem Polizeikommissariat, weil ein Jugendlicher beim Zusammenstoß mit den Sicherheitskräften erschossen worden war.

In mehreren Stadtvierteln Algiers wurde am späten Samstag abend geschossen. In den Vierteln Hussein Dey, Belcourt, El Hamma und Maquaria nahm die Polizei zahlreiche Demonstranten fest. Maquaria wurde von der Armee völlig abgeriegelt. Dort hatten FIS-Anhänger demonstriert und ein Polizeifahrzeug mit einem Molotowcocktail in Brand gesetzt. Polizisten in Zivil drangen in Wohnhäuser in Maquaria ein, verhafteten Bewohner und transportierten sie sofort ab. Zuvor hatten Armee und Polizei in den Vierteln Stellung bezogen.

Die Islamisten verlangen vor allem, daß die Einkesselung der Moscheen durch die algerische Armee beendet und die Annullierung der Parlamentswahlen rückgängig gemacht wird, nach deren erstem Durchgang sich ein Wahlsieg für die Heilsfront abgezeichnet hatte.

Über die Sitzung des Hohen Sicherheitsrates war zunächst nichts Genaueres bekannt. Der Hohe Sicherheitsrat ist in der algerischen Verfassung als ein beratendes Organ verankert, daß die Aufgabe hat, dem Staatspräsidenten „sein Urteil über alle die nationale Sicherheit betreffenden Fragen“ abzugeben. Zu seinen Mitgliedern zählen insbesondere der Regierungschef und die Minister für Verteidigung, Inneres und Justiz.

Der algerische Fußballbund setzte unterdessen alle Begegnungen „aufgrund der Situation in Lande“ bis auf weiteres aus. Diese Entscheidung kündigt nach Angaben von politischen Beobachtern zumeist die Verhängung des Ausnahmezustandes an. Laut Verfassung konsultiert der Staatspräsident den Hohen Sicherheitsrat, bevor er den Notstand, den Belagerungszustand oder den Ausnahmezustand ausruft. Diese drei Maßnahmen statten den Staatschef mit besonderen Vollmachten aus, wenn „das Land in seinen Institutionen, seiner Unabhängigkeit oder in seiner territorialen Integrität bedroht ist“. Der Ausnahmezustand kann laut algerischer Verfassung ohne zeitliche Begrenzung verhängt werden.

Am Samstag hat eine bisher unbekannte Moslem-Gruppe, „Die Eidgetreuen“, in einem „Kommuniqué Nr. 1“ zum „Dschihad“ aufgerufen. In ihrer Erklärung fordern sie die „Fortsetzung des Dschihad vom November 1954“. Damals hatte der bewaffnete Kampf gegen die französische Kolonialmacht begonnen, der 1962 mit der Unabhängigkeit Algeriens beendet wurde.

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