: Macht Wiedervereinigung unfruchtbar?
■ Drastischer Geburtenrückgang in den östlichen Bezirken Berlins nach dem Fall der Mauer/ Was ist der Grund?/ Zukunftsangst, Arbeitslosigkeit, niedriges Einkommen?/ Oder aber ist es die Verheißung eines individualistischen, kinderlosen Lebens?
Berlin. Ost-Berlin im Jahre 2000. Die Kinderkrippen sind verwaist. Spielplätze werden geschlossen und zu Parkplätzen für die automobilen Berliner umgebaut. Berlins Familiensenator hat für jedes neugeborene Kind eine Prämie von 10.000 Mark ausgesetzt. Ein absurdes Szenario oder schlicht die Zukunftsrealität? Fakt ist, daß die Geburtenzahlen im Ostteil der alten und neuen Hauptstadt nach dem Mauerfall rapide gesunken sind.
Wurden im ersten Halbjahr 1990 noch 8.141 Geburten registriert, so waren es ein Jahr später nur noch 4.747, ein Rückgang von sage und schreibe 42 Prozent. Setzt sich dieser Trend in den nächsten Jahren fort, würden zur Jahrtausendwende rein rechnerisch nur noch 48 Kinder in den östlichen Bezirken Berlins das Licht der Welt erblicken.
Das Mikroklima ist dahin
Reagieren die Ostberliner also mit Impotenz beziehungsweise Unfruchtbarkeit auf die Wiedervereinigung? Für Jutta Gysi, Familiensoziologin an der abgewickelten Akademie der Wissenschaften in Ost- Berlin, liegen die Ursachen des Geburtenrückgangs darin, daß »nichts mehr gilt, was vorher galt«. Während im SED-Staat das Kinderkriegen ideologisch und materiell gefördert wurde, mache sich jetzt bei den Frauen angesichts von Massenarbeitslosigkeit und geringem Einkommen eine große Unsicherheit breit.
»Den Frauen wurde nach der Wende ihr gewohntes Mikroklima genommen«, meint die Familiensoziologin. In der DDR standen für die Kleinsten vom ersten Lebensjahr an Krippenplätze bereit. Berufstätigkeit und Kindererziehung ließen sich verhältnismäßig gut unter einen Hut bringen. Familienpolitik stand im Zeichen der sozialistischen Bevölkerungspolitik. Ein Anreiz für junge Leute war der Wunsch nach einer Zwei-Raum-Wohnung, die der Staat jungen Familien zur Verfügung stellte. Jetzt sei es so, daß mit einem Kind der Wunsch nach einer eigenen Wohnung immer unrealistischer werde.
»Psychosoziale« Gründe macht Anna-Margarete Krätschell von der Familienberatungsstelle des Diakonischen Werkes in Prenzlauer Berg als Ursache aus. »Viele junge Leute erkennen jetzt, daß es hinter dem Gartenzaun noch mehr gibt.« In der DDR hielt das Leben kaum Abwechslungen bereit, Individualität konnte nicht ausgelebt werden. Über die Arbeit konnten nur wenige eine Identität aufbauen, so daß viele mit der Gründung einer Familie ihr Glück in einer privaten Oase suchten.
Die Geburt eines Kindes stand in der DDR am Beginn der gemeinsamen Lebensentwicklung eines jungen Paares, während nunmehr die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts im Vordergrund steht und ein Kind als I-Tüpfelchen der Lebensplanung wird. »Wer jetzt ein Kind bekommt, weiß warum und wendet sich dem Kind bewußter zu«, weiß Frau Krätschell aus ihrer Praxis zu berichten.
Eine weitere Ursache für den Geburtenrückgang ist aber auch der Lockruf des Geldes. Seit 1989 haben rund 200.000 Ostberliner ihre Stadt verlassen. Lukrativere Arbeitsplätze in Westdeutschland übten gerade auf jüngere Leute eine große Anziehungskraft aus. Zwar hatte Ost-Berlin in den letzten zwei Jahren auch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Zuzügen zu verzeichnen (Beamte und andere »Aufbau«-Helfer), doch hatten diese Neuberliner ihre Familienplanung schon abgeschlossen, ehe sie die neue Hauptstadt zu ihrem Domizil machten.
»Eine schlaue Reaktion auf die Realität«
Berlins zuständiger Politiker, Familiensenator Thomas Krüger, selbst Ossi und mit seinen 32 Jahren auch noch kinderlos, hat zwar erkannt, daß sich in dem Geburtenrückgang »die große Zukunftsangst vieler junger Paare widerspiegelt«. Sein familienpolitischer Referent Uwe Dieckhoff stellt aber unmißverständlich fest, daß »es nicht die Aufgabe des Senats sein kann, die Menschen dazu zu überreden, daß sie Kinder bekommen sollen«.
Dieckhoff macht für den Geburtenrückgang nicht in erster Linie wirtschaftliche oder soziale Gründe verantwortlich. Er sieht einen rapiden, aber ganz normalen Anpassungsprozeß im Zeugungsverhalten der neuen Bundesbürger, »eine schlaue Reaktion der Menschen auf die gesellschaftliche Realität«. In Ost-Berlin waren die Frauen bisher bei der Geburt des ersten Kindes im Durchschnitt 23 Jahre alt, im Westteil der Stadt dagegen gut fünf Jahre älter. Die Ostberlinerinnen holten in dieser Hinsicht jetzt auf. »Eine ganz normale Reaktion, kein Grund zur Aufregung«, so Dieckhoff.
Der Psychologe befürchtet aber, daß die Verlockung groß sei, den Geburtenrückgang als Argument für weitere Einsparungen bei der Kinderbetreuung zu nutzen. Familiensenator Krüger sah sich schon nach den Haushaltsberatungen 1991 gezwungen, 1.500 Kita-Plätze einzusparen. Sinkende Geburtenzahlen könnten den Ruf laut werden lassen, die ohnehin im Vergleich zum Westteil bessere Ausstattung mit Krippenplätzen für Kinder bis drei Jahre anzutasten. »Wir müssen alles daransetzen, daß die Krippenplätze nicht abgebaut werden, sondern vorübergehend in Hortplätze umgewandelt werden«, sagt Dieckhoff.
Eine Berufsgruppe, ohne die kein Kind auf die Welt kommt, ist schon jetzt von den rückläufigen Zahlen betroffen: die Hebammen. Rosemarie Schilling, leitende Lehrhebamme an der Ostberliner Charité und Vorsitzende des Berliner Hebammenverbands, weiß von den negativen Konsequenzen für ihre Kolleginnen zu berichten. Durch den Geburtenrückgang seien die Planstellen für Hebammen in den Krankenhäusern Buch und Friedrichshain drastisch abgebaut worden. In der Charité sei man davon bislang aber noch nicht betroffen gewesen, weil die Geburtenzahlen dort weiterhin konstant geblieben seien.
Einigkeit besteht unter den Experten aber darüber, daß Krippen und Hebammen schon bald wieder gebraucht würden. Uwe Dieckhoff geht davon aus, daß »in drei bis fünf Jahren ein neuer Kinderboom in Ost- Berlin einsetzen wird«. Anna-Margarete Krätschell sieht einen längeren Zeithorizont: »Das ist ein Prozeß, der acht bis zehn Jahre dauert. Es muß hier schließlich ein ganz neues Stück Kultur gelernt werden.«
Vielleicht hat dann auch der Chefarzt der Gynäkologischen Abteilung der Charité, Professor Lau, seine Sprache wiedergefunden. Ihm war der Geburtenrückgang wohl derart aufs Gemüt geschlagen, daß er jede Stellungnahme mit dem Hinweis auf die »freiheitlich-demokratische Grundordnung« ablehnte. Thomas Wieseler
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