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Möglichst immer am Rande der Überforderung

Jugendtheater in Hamburg: Ein Neuanfang in Sicht  ■ Von Till Briegleb

Die Jugendlichen sind von belehrender Pädagogik und linken Klischees im Theater verschreckt. „Wir wollen Innovation in die Jugendtheaterlandschaft bringen!“ meint darum der Leiter des neugegründeten Hamburger „Jugendtheater auf Kampnagel“ (JAK), Jürgen Zielinksi. Er möchte in die Offensive gehen und aus der Sinnkrise und Orientierungslosigkeit des deutschen Kinder- und Jugendtheaters — eine Krise, die mehr das Jugend- als das Kindertheater betrifft — einen neuen Inszenierungsstil entwickeln: mehr künstlerisch als didaktisch aufgebaut, eine Theatersprache, die ohne Abbildungsrealismus auskommt und die politische Inhalte ohne belehrende Haltung vermittelt.

Mit einem Auftaktfestival, bei dem die meisten der wichtigen Kinder- und Jugendbühnen zu Gast waren, bot Zielinski — vor seiner eigenen ersten Hamburger Premiere — dem Publikum die Möglichkeit, den aktuellen Stand der Diskussion um neue Jugendtheaterformen und -konzepte an exemplarischen Aufführungen zu erleben. Für eine perfekt künstliche Form, die dem emanzipatorischen Aspekt von Jugendtheater zu Gunsten einer stilisierten Schönheit abgeschworen hat, steht das Speeltheater Gent mit dem Tanztheaterstück Lauras Landschaft. In einer Bilderbuch-Eislandschaft zwischen Kitsch und Poesie entwickelt sich eine naiv-sinnliche Geschichte zwischen drei tanzenden „Wesen“, die mancher der anwesenden Theatermacher böse als „Kunsthandwerk“ bezeichnete. Auch Orlando Nunez des Berliner Grips-Theaters nimmt den jugendlichen Zuschauer für voll, dennoch vermittelt das Stück um den Konflikt zwischen einem Arbeiter und einer Betriebspsychologin mehr die Aufgabe als eine Perspektive eines neuen Jugendtheaters.

Jürgen Zielinskis Grenzland dagegen, eine Inszenierung für das Ostberliner Theaters der Freundschaft, ist mit seiner Thematik um Aids, Drogen und zerrüttete Familienverhältnisse noch dem alten Geist des Jugendtheaters nahe. Aber ebenso wie bei seiner ersten Hamburger Premiere, Speckpferde, bedient er sich des Theaters als Kunstform und verarbeitet viele Elemente des „erwachsenen“ Theaters.

In einer grotesken Szenencollage zerkleinert Speckpferde, ein zehn Jahre altes Stück des Schweden Per Lysander, den Lehrerberuf in seine einzelnen Komponenten: Selbstzweifel, gescheiterte Utopien, Ängste und Neurosen. Ein Kollegium trifft in einer Schule ein und stellt verwundert fest, daß sie, seine Mitglieder, alle neu sind. In einem riesigen Raum, halb U-Boot, halb Märchenschloß, ringen die Pädagogen um ihre berufliche Identität. Der Geist der eigenen Lehrer taucht auf und konfrontiert sie mit den Prinzipien der alten Schule, die sie zwar als autoritär ablehnen, deren Effizienz sie aber nichts entgegenzusetzen haben. Im Wechsel von absurden und realistischen Szenen wird das Spektrum der Verwirrungen aufgefächert, Ängste offenbar und Paradoxien benannt. Das Stück, das in einer anderen Inszenierung auch in Esslingen läuft, fordert von seinem Publikum viel Bereitschaft, den szenischen Sprüngen zu folgen. Trotzdem eignet es sich dank seines Bilderreichtums eindrücklich zur Neuformulierung eines Jugendtheater-spezifischen Vokabulars.

Es stiftet erst einmal Verwirrung und macht neugierig, beweist ein strenges Bewußtsein für individuelle wie gesellschaftliche Konflikte und formuliert gleichzeitig die Fehler des Systems ohne jeden Oberlehrerhabitus.

Dennoch bewegt sich Zielinskis Inszenierung manchmal am Rande der Überforderung, denn oft leidet die erzählerische Dichte unter der Menge der dargebotenen Aspekte. Trotzdem ist der Mut zum Experiment, zum Weiterdenken und zur Auseinandersetzung mit jugendlichem Geschmack überall zu spüren. Ob sein Theater stilbildend wird, wie Zielinski hofft, muß dann die kontinuierliche Arbeit zeigen.

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