: Wie im Fluge
■ Virilio-Texte in der Brotfabrik
Seit der Erfindung der Dampfkraft ist es mit der Beschaulichkeit des Fußgängerdaseins vorbei. Der Einführung der Eisenbahn folgten immer schnellere Fahrzeuge, in denen Generationen von Passagieren durch die Verzerrung der eigenen Wahrnehmung zunächst einmal schlecht wurde. »Die Schnelligkeit ist unerhört«, schimpft etwa der reisekranke Victor Hugo. »Die Blumen am Wege sind keine Blumen mehr, sondern Flecke oder eher noch rote und weiße Striche.«
Der Weg vom ersten Transportmittel Pferd zur automobilen Gesellschaft frei fahrender Bürger hat eine Veränderung der Wahrnehmung bewirkt. Unglaublich viel Strecke wird zurückgelegt, während der Passagier — egal ob bei der BVG oder im Düsenjet — an einem Nicht-Ort gefangen ist, in dem bestenfalls der Innenraum gewohnte Dinge bietet. »Wenn wir zum Taxifahrer sagen: ‘Fahren Sie so schnell wie möglich!‚, was wissen wir da von der Geschwindigkeit des Taxis?« sucht der französische Philosoph und Urbanist Paul Virilio nach Bekanntem: »In Geschwindigkeit, das ist so ähnlich wie in China, einer anderen Gegend, einem anderen Kontinent, den wir zu kennen vorgeben.« Wenn die Wirklichkeit außerhalb des Fahrzeugs durch Tuchfühlung nicht mehr erfahrbar ist, löst die im Geschwindigkeitsraum verbrachte Zeit die gegenständliche Welt allmählich ab. Anschaulich zu beobachten ist der Wertewandel bei der Wahrnehmungsweise von Autofahrern.
»Das Fahrzeug, das am Straßenrand steht, ist nichts als ein Sofa mit vier oder fünf Sitzen. Wenn es nun startet und mit voller Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt fährt (...) — wo sind wir da?« Im Gefühlsstau. Was wirklich ist, bestimmen im Temporausch nur die Grenzen der Maschine — alles andere wird, wenn die Verkehrsleitsysteme es zulassen, plattgefahren. — Der alte Menschentyp — noch immer die kostbaren Vehikel führend— ist mit der Vielzahl von Eindrücken in der neuen Welt überfordert. Wir gehen — den von Freud erkannten Wunsch, in den Mutterleib zurückzukehren, nachvollziehend — den evolutionären Weg rückwärts: So sind die meisten Kleinanzeigenkunden weder imstande, zu buchstabieren noch zusammenhängende Sätze zu sprechen.
Aus der Evolution der Verkehrsmittel leitet Virilio die Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft ab, die von der industriellen Revolution über weltweite Vernetzung schließlich zur »Ablösung der Netzhaut, (...) und zum Übergang zur Vermittlung durch das Fahrzeug« führt. Für Virilio sind dies Merkmale einer Gesellschaft, die dazu übergeht, die Mittel der Übertragung für das Ziel zu halten.
Der Vortrag mit anschließender Diskussion über die Philosophie Paul Virilios, den Marianne Karbe heute abend in der Brotfabrik (Weißensee) hält, heißt entsprechend »Geschwindigkeit und Politik« und ist auf 20 Uhr terminiert. Aber lassen Sie sich auf dem Hinweg nicht wie das Kaninchen aus Alice im Wunderland dominieren: »Schnell, schnell, schnell«, heißt es da: »Wir kommen immer zu spät, auch wenn wir zu früh kommen.« Stefan Gerhard
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