Glenns Rheinfahrt

oder Der Kampf ums „Siegfried-Idyll“  ■ Von Harald R. Rey

Es war kurz nach Mitternacht. Wir hatten schon einige Stunden zusammengesessen und uns über diesen und jenen Komponisten und über diese und jene Komposition unterhalten und waren gerade mit unserem Imbiß — french fried potatoes, ham and eggs — fertiggeworden, als Glenn sich sozusagen unvermittelt an seinen Steinway setzte und ein paarmal hintereinander einen E- Dur-Akkord anschlug und dabei zuerst mit respektvoll-vorsichtigem, dann aber mit einem ironischen Unterton sagte: Das ist die Stelle. — Das ist die Stelle, wo man entweder sofort bis auf den Grund des Rheins absäuft, oder aber das Boot im ruhigen Fahrwasser bis ans Ufer bringt. Dazwischen gibt es nichts.

Und gerade deshalb sei dieses Stück in den letzten Jahren sein absolutes Lieblingsstück geworden und nur wenige Male von Platz eins seiner persönlichen Hitparade verdrängt worden. Lord of Salisbury von Orlando Gibbons, die letzte unvollendete Fuge aus der Kunst der Fuge von Bach und natürlich die E- Dur-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier II seien die einzigen Stücke, die er daneben noch gelten lassen könne. Noch einmal schlug er jetzt diesen offen-schwebenden Akkord an und sagte begeistert: Wagner, Siegfried-Idyll, Takt373. Marvellous. Meine Liebe für das Stück ist sogar soweit gegangen, daß ich nicht davor zurückgeschreckt bin, einiges hinzuzukomponieren. Zwar habe dieses Hinzufügen der Noten vor allem seinen Grund darin gehabt, daß Wagner oft über mehrere Takte auf einem Akkord stehe, sagte Glenn weiter, und so etwas könne man eben nicht so ohne weiteres auf dem Klavier nachbilden, da gehe einfach das Empfinden für den weiteren Verlauf des Geschehens verloren. Aber schließlich seien ihm diese paar hinzugefügten Noten so sehr ans Herz gewachsen, daß er sie später, als er das Siegfried-Idyll einmal dirigiert habe, am liebsten mit „eingebaut“ hätte. Dies sei aber am Widerstand des Orchester-Ensembles gescheitert.

Ich hatte Glenn die ganze Zeit über gespannt zugehört und war nun froh, endlich auch noch einmal zu Wort zu kommen. Mit Überschwang und Emphase setzte ich an: Glenn, seit ich Ihre Version des Siegfried- Idylls auf dem Klavier kenne, ist mir das Stück in der Original-Fassung ein für allemal verleidet worden; und ich übertreibe nicht, wenn ich hinzufüge, es ist der beste Wagner, den ich je gehört habe. Sie sollten alles von Wagner auf dem Klavier einspielen. Tannhäuser, Tristan, den Ring und nicht zuletzt natürlichParsifal. Das Theatralische an Wagner durch das rein Musikalische ersetzen. Wagner muß man auf Diät setzen. Die gesamte Wagner-Musik gehört bis auf die Knochen entschlackt und entfettet, denn die Orchester haben seine Musik zu einem unansehnlichen Fettklumpen aufgeschwemmt. Gewebeverfettung zuerst, und schließlich Herzkranzverfettung zum Schluß...

Glenn schmunzelte: Ja, ja den gesamten Wagner für Streichquartett oder -quintett, das wäre vielleicht eine lohnende Knochenarbeit.

Glenn hatte für diesen Abend „einiges von Strauß, Gibbons, Bach und Wagner“ vorgeschlagen; aber wer ihn kannte, wußte von seiner bemerkenswerten Eigenschaft, fast lieber über Musik zu reden, als sie zu spielen. Kein Gedanke war ihm dabei zu abwegig, keine Theorie zu kraus und keine Philosophie zu hanebüchen. Er liebte die Polemik. Und jeder Widerspruch seines Gegenüber wurde buchstäblich im Keime erstickt, wenn er sich an den Steinway setzte. Das Abwegige wurde dann zum atemberaubenden Abenteuer, und die verschrobenste Theorie klang in Tönen herrlich erquickend und lebendig. So überzeugend hat man noch keinen Musiker irren hören, dachte ich.

Wir kamen wieder auf das Siegfried-Idyll zu sprechen, und Glenn beklagte sich darüber, daß kein Mensch sich eine Vorstellung davon machen könne, wieviel Kraft ihn diese eine Stelle, also Takt373, genaugenommen der Übergang von Takt372 zu 373 schon gekostet habe. Diese Stelle sei eigentlich der kräftezehrendste Gewaltakt in der gesamten Musikliteratur. Takt372 auf Takt 373. Hier gehe es um alles. Er habe jahrelang mit Ausdauer und Zähigkeit immer wieder versucht, dieser Stelle beizukommen. Am Anfang habe er mit Tranquillizern herumexperimentiert und erst aufgegeben, als sein Kopf und seine Handgelenke und schließlich seine Finger ihm nicht mehr gehorcht hätten. Er habe sich daraufhin, so Gould, noch einer rigoroseren Prozedur unterzogen, indem er abwechselnd einmal drei eingeschaltete Fernsehapparate plus ein eingeschaltetes Radio, dann wieder drei eingeschaltete Radios plus ein eingeschalteter Fernsehapparat und so fort aufgestellt habe, mal im Hintergrund, mal in unmittelbarer Nähe des Klaviers, und immer wieder mit den beiden Takten372 und 373 gegen das Reizüberflutungschaos anzuspielen versucht, um somit die widerspenstige Stelle zu überlisten. Auch habe er das Klavier im Wald und auf einem Berg aufstellen lassen, und selbst in der Kirche sei er dieser einen gottverdammten Stelle kein Stück näher gekommen. In seiner Verzweiflung habe er sich schließlich zu der Version zwei eingeschaltete Fernsehapparate plus zwei Radios plus einen hochtourigen, eingeschalteten Staubsauger entschlossen und diese rings um den Steinway aufgebaut und fortwährend die beiden Takte372 und 373 wiederholt. Nachdem auch dies ihm keinen Erfolg gebracht hätte, habe er schließlich resigniert aufgegeben. Jedoch in der gleichen Nacht habe er diesen wirklich grandiosen Traum gehabt, und der ging so, fuhr Glenn fort: Ich trieb auf einem Floß, auf dem auch mein Steinway-Flügel stand, den Rhein hinunter und spielte wie immer in diesen Tagen dasSiegfried-Idyll. Kurz vor St.Goar, ich war gerade wieder in beklemmender Nähe von Takt372, erblickte ich, starr vor Schreck, hoch oben auf dem Schieferfelsen, die Lorelei. Anstatt aber, wie ich es aus der Sage kannte, mit Mann und Maus beziehungsweise, auf meine Siutuation bezogen, mit Floß und Steinway an den Klippen zu zerschellen, gelang mir in diesem Moment auf ebenso rätselhafte wie wunderbare Weise zum ersten Mal und mit geradezu himmlischer Leichtigkeit der Übergang von Takt372 und 373. Und das wars! rief Glenn aus. Alle Qual hatte nach dieser Traumerfahrung ein Ende. Freud wäre gewiß beeindruckt gewesen. Jedenfalls ich bin es bis heute, fügte er lachend hinzu.

Ich staunte ungläubig. Glenn jedoch fuhr fort: Mit irdischen Mitteln sind diese beiden Takte wohl nicht zu bewältigen; es ist die metaphysischste Stelle in der Musik, die ich kenne. Eine Art Nirvana-Aufbruchstimmung — da braucht man dann auch mindestens ein paar Engelsflügel, mindestens... aber wie dem auch sei, fügte er hinzu, seit diesem Traum, spiele ich — aus reiner Dankbarkeit — vor allem aber in aller Heimlichkeit, Heinrich Heines Lorelei in der Silcher-Vertonung. Grauenhaft! Aber so ist das wohl, wenn man sich mit der Romantik einläßt...

Es war inzwischen halb drei geworden, und Glenn goß sich noch eine Tasse Tee ein. Nach einer langen Pause sagte er schließlich: Attention please, one masterpiece is coming up! — ging zu seinem Steinway und spielte das ganzeSiegfried-Idyll.

Glenn Gould conducts and plays Wagner. Sony Classical. Die Aufnahme ist Goulds Debüt als Dirigent und gilt als „final recording“.