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Rabiya, Hausmutter wider Willen

Vor einem Jahr verlor Abdul Hamids Familie im Bunker von Bagdad-Ameriya alle Frauen — außer einer  ■ VON HENRI HÉRON

Die 17jährige Rabiya ist längst nicht mehr das Nesthäkchen, das von allen Geschwistern verwöhnt wurde. Sie schmeißt den ganzen Haushalt, versorgt ihren kranken Vater und kümmert sich um einen depressiven Bruder. Seit dem 13.Februar letzten Jahres, als amerikanische Raketen den Zivilschutzbunker von Bagdad- Ameriya, in den sie mit ihrer Mutter und zwei Schwestern jede Nacht geflüchtet war, in Schutt und Asche legten, hat sich Rabiyas Leben grundlegend verändert. Auf einen Schlag ist sie erwachsen geworden.

„Ich selbst bin nur durch einen Zufall davongekommen“, berichtet sie. Der Gang in den Bunker war ihr seit Beginn der Luftangriffe fast schon zur Gewohnheit geworden. „Nur Frauen, Kinder und kranke alte Männer durften hinein. Wir gingen in den Bunker, um Schutz zu suchen vor den Bomben, aber auch weil es dort Wasser gab und einen Stromgenerator. Wir konnten dort unsere Kleidung waschen, uns pflegen. Im oberen Stockwerk wurden sogar Videofilme gezeigt.“

Aber ausgerechnet an jenem schicksalsschweren Abend wollte Rabiya nicht hinein. „Der Bunker war immer so voll, manchmal war die Atmosphäre so bedrängend, daß ich kaum Luft bekam.“ Und weil Männern der Zutritt zu den Luftschutzräumen verwehrt war — die Gebote des Islam erlauben es nicht, daß Männer und Frauen auf so engem Raum zusammenkommen —, ihr Vater sich aber an diesem Abend nicht wohlfühlte, sagte Rabiya zu ihrer Mutter, daß sie zu Hause beim Vater bleiben würde. Das war für beide die Rettung.

„Alle waren total verstümmelt“

Der Vater heißt Abdul Hamid, 65 Jahre alt. Er nimmt mich an die Hand und führt mich in sein Schlafzimmer. „Das ist ein Foto von Hadeya, meiner Frau“, sagt er und zeigt auf ein Bild über dem Ehebett. „40 Jahre haben wir zusammen gelebt. Ich konnte mich all die Zeit auf sie verlassen. Fragen Sie die Nachbarn: Sie war eine gute Frau, bei allen beliebt. Und nach all den gemeinsamen Jahren konnte ich sie nicht einmal beerdigen, weil die Leichen aus dem Bunker nicht identifiziert werden konnten. Alle waren total verstümmelt; wir konnten nicht mal erkennen, ob es Frauen, Kinder oder Männer waren.“

Seit dem Massaker von Ameriya, bei dem zwischen 700 und 1.000 Menschen umgekommen sind und das in aller Welt Entsetzen hervorrief, lebt Rabiyas Bruder nicht mehr im eigenen Haus; der 38jährige Salah ist zu seinem Vater und seiner „kleinen“ Schwester gezogen. „Ich wollte dort in diesem leeren Haus nicht mehr leben. Bis heute kann ich es nicht glauben, daß sie tot sind, meine Frau und meine Kinder. Mein Ältester, Hadi, war 16, ein ausgewachsener Mann schon, so groß wie ich...“

Alle klammern sie sich an Rabiya. Sie bietet dem kranken Vater und dem labilen Bruder Halt. „Mein Bruder Salah war am Boden zerstört. Seit er bei uns wohnt, wirkt er verstört, zerstreut. Wenn ich mit ihm spreche, scheint er nichts von dem, was ich sage, zu hören.“ Rabiya selbst ging es kurz nach dem Massaker von Ameriya auch nicht viel besser: „Tag und Nacht lag ich auf meinem Bett und weinte. Manchmal war mir, als fiele ich in ein tiefes schwarzes Loch. Ich habe sogar daran gedacht, mich umzubringen. Was mich davon abhielt, war der Gedanke an meinen Vater und an Salah, meinen unglücklichen Bruder.“

Immer war Rabiya die Jüngste gewesen; die großen Schwestern hatten ihr Geschenke gemacht, die Brüder gaben ihr Geld. Solange sie sich erinnern konnte, hatte die Mutter sich ums Kochen, Waschen, Putzen und ums Einkaufen gekümmert. Heute versorgt sie die ganze Familie — sogar das Brot backt sie selbst, denn die meisten Bäckereien funktionieren nicht mehr.

„Ihr seid doch die Männer“

„Nur mit großer Mühe habe ich Backen und Kochen gelernt. Ein weitaus größeres Problem jedoch war die Gemütsverfassung in meiner Familie: Mein Vater und mein Bruder verweigerten die Nahrung; ich mußte sie dazu zwingen.“

„Immer wieder mußte ich sie beruhigen, sie trösten“, erzählt die 17jährige. Auch heute noch erinnern die Mahlzeiten in Rabiyas Familie an eine Trauerfeier: Abdul-Hamid ist in Gedanken bei seiner Frau, Salah denkt an das gemeinsame Abendessen im Kreise seiner verstorbenen Familie. „Eines Tages konnte ich es nicht mehr ertragen; ich bin förmlich explodiert, sagte ihnen: ,Ihr seid doch die Männer im Haus, ihr müßtet euch eigentlich um mich kümmern.‘ Daraufhin wurde es besser, sie haben sich seither gefaßt, helfen mir, gehen einkaufen.“

„Rabiya war für uns beide wie ein Geschenk Gottes“, meint ihr Vater. „Ohne sie würden unsere Wunden nicht heilen. Das Haus, mein Leben ohne Hadeya, alles hat seine Bedeutung verloren. Wären Rabiya und mein unerschütterlicher Glaube an Gott nicht gewesen...“ Auch Salah hat nur mit größter Mühe seine Lebensmüdigkeit abgestreift: „Nach dem Massaker wollte ich nicht mehr zur Arbeit gehen. Ich plante, ins Ausland zu fliehen, um dort als Ingenieur zu arbeiten. Aber kein einziges Land wollte uns ein Visum erteilen; keiner wollte die Iraker. Also beschloß ich, in Bagdad zu bleiben.“

Die Gasse, in der Rabiyas Familie lebt, ist zur reinen Männergesellschaft geworden; Männer laden sich gegenseitig zum Essen ein, trösten einander. „Früher kannte ich die meisten hier überhaupt nicht“, sagt Salah, „heute ist es, als gehörten alle zur Familie — eine Art Notgemeinschaft.“

„Gott soll uns rächen“

Die Frage nach den Verantwortlichen macht Rabiya unwirsch: „Darüber möchte ich nicht sprechen.“ Ihr Vater Abdul-Hamid erklärt sibyllinisch: „Gott ist gerecht, am Tag des Jüngsten Gerichts wird jeder für seine Vergehen zahlen müssen.“ Nur Salahs Antwort ist klar. „Die Amerikaner waren es, die unsere Familien auf dem Gewissen haben.“

Allerdings räumt Salah ein, daß, hätten beide Seiten sich versöhnlicher, flexibler gezeigt, ihre Familien noch am Leben wären. Befragt nach seinen Zukunftsaussichten, wird auch Vater Abdul-Hamid konkreter: „Ich bete zu Gott, für die Seele meiner Frau, für meine Kinder und alle gefallenen Iraker. Und ich flehe ihn an, sich in unserem Namen an denjenigen, die diese Katastrophe über uns gebracht haben, zu rächen.“

Ein Arzt, der in umittelbarer Nähe von Rabiyas Familie eine Praxis für Allgemeinmedizin betreibt, sagt: „Die Überlebenden hier im Stadtteil sind lange Zeit Gefangene ihrer eigenen Hoffnung gewesen. Die psychischen Folgen waren entsprechend: Tag für Tag hofften sie auf ihre Freilassung, und Tag für Tag wurde ihre Hoffnung enttäuscht. Mit der Zeit gibt da jeder auf.“ Das Schicksal der Familie der jungen Rabiya steht stellvertretend für das der meisten Iraker, zumindest in den großen Städten. „Wir sind wie die verschworene Gemeinschaft auf einem Schiff, das auf stürmischer See umherirrt“, sagt Salah. „Nur die Überlebensstrategien, die wir entwickeln, sehen unterschiedlich aus.“

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