Privatisierung auf ukrainisch

Auch nach der Unabhängigkeit stoßen neue Wirtschaftsmodelle auf die üblichen bürokratischen Hindernisse/ Gleichzeitig geht die Angst vor Arbeitslosigkeit um/ Moskau ist an allem schuld  ■ Aus Lwiw K.-H. Donath

„Sollen wir den Erwerb von Eigentum wirklich an die ukrainische Staatsbürgerschaft binden? Kommen damit nicht viel größere Probleme auf uns zu? Wer ist Ukrainer? Jemand, der bis 1939 hier lebte oder bis 1945 oder wie?“ Pädagogisch einfühlsam, mit einem Gran Ironie, versucht der Stadtabgeordnete Ben Kottlik die Parlamentarier im westukrainischen Lwiw (Lemberg) von der lauernden Gefahr ihrer einfachen Lösungen zu überzeugen. Seit mehr als einem Jahr zieht sich die Debatte um Privatisierung nun schon hin.

In Lemberg, dem Epizentrum des ukrainischen Unabhängigkeitsdranges, setzte die Reformdiskussion sehr früh ein. Nicht zuletzt dank der Initiativfreudigkeit des jungen Bürgermeisters Wassil Schpitzer. Doch bis dato kam man auch hier nicht weiter als in den östlicher gelegenen Regionen. In der Sitzungspause auf dem Korridor meint Stadtabgeordneter Ben Kottlik: „Ob nun in zwei oder drei Wochen, bis dahin hat sich das Wetter nicht gedreht.“ Kottlik beschönigt ein wenig, andererseits kennt er die Bedingungen wie kaum ein anderer hier. Er ist ein Vollblutpolitiker, ein Gremienhengst, einer von der Sorte, die alles wichtig finden und überall dabei sind.

Zum Beispiel bei der Privatisierung des Wohnungswesens, für die es mehrere Modellvorschläge gibt. Einer will die Wohnungen gegen einen symbolischen Preis den jetzigen Bewohnern überschreiben. Durch eine monatliche „Steuer“ sollen dann Unterhaltungs- und Instandhaltungskosten bestritten werden. Schon jetzt ist klar, dabei werden die Wohnungen im Endeffekt teurer. Ein anderes Privatisierungsmodell sieht differenzierte Preisabstufungen vor. Einige Wohnungen werden „frei“ verkauft, andere in eine Art Genossenschaft verwandelt. Und ein dritter Entwurf möchte alles kostenlos verteilt wissen.

Der erfreue sich größter Beliebtheit, lacht Kottlik: „Die alte Mentalität, ich hab' nichts, also gib!“ Damit müsse man endlich Schluß machen. Kottlik zumindest hat den philosophischen Grundkurs „Besitzindividualismus“ schon absolviert: „Eigentum garantiert Unabhängigkeit“, glaubt er inzwischen. Doch das ist erst ein viel späterer Schritt. Noch versteht man hier, im galizischen Lemberg, unter Unabhängigkeit die Abnabelung von Moskau.

Ruch: „Wir sind gegen eine spontane und totale Privatisierung“

Die Stadtverordnetenversammlung vertagt derweil die endgültige Entscheidung über die Privatisierung. Bürgermeister Schpitzer ist unzufrieden. Im Hauptquartier der Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“ hatten die beiden Vorsitzenden Wassil Los und Lubomir Senik das Stadtoberhaupt wegen seiner Privatisierungspolitik heftig kritisiert. „Wir sind gegen eine spontane und totale Privatisierung“, meinen die beiden Hochschullehrer. Angeblich sei das auch Mehrheitswille in der Bevölkerung. Ihre Begründung folgt dabei einem immer wieder anzutreffenden Muster: „Die Mafia reißt sich alles unter den Nagel. Das Geld dafür kommt aus Moskau, und unsere Leute gehen leer aus.“ Beide fürchten den Schritt in eine andere Wirtschaftsform. Kein Wunder, als Professoren sind sie an Alimentierung gewöhnt. Und: Sie sind die Meinungsmacher vor Ort. Schpitzer reagiert gereizt auf die Vorwürfe: „So? Man hat mich kritisiert?“, fängt sich aber gleich. „Natürlich, unsere Mafia ist stark, sie hängt mit dem KGB, der Miliz und der Industrie zusammen. Doch wenn wir die Monopolstrukturen jetzt nicht brechen, ist alles für die Katz.“ Die Zeit drängt, die Leute werden unruhig, meint er. Seit dem letzten Treffen vor anderthalb Jahren hat er eine Menge Blessuren eingesteckt. Bereits damals wollte Schpitzer die Privatisierung in Angriff nehmen. Längst wirkt er nicht mehr so gelassen.

„Heute ist es völlig egal, woher das Geld kommt“, verteidigt er seine Politik. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen hat das Parlament, die „Rada“, in Kiew letzte Woche geschaffen. Allerdings stümperhaft, wie Experten urteilen: Alte Funktionäre aus den Kommunal- und Wirtschaftsverwaltungen würden begünstigt, die Ausgabe von Aktien verhindere die notwendige Konzentration des Kapitals und es würden Modelle fehlen, auf die man sich auf kommunaler Ebene stützen könnte. Daran basteln gerade Spezialisten in Lwiw, und Kottlik hofft, bis Ende Februar den ersten Posten abhaken zu können: „In der Einstiegsphase wollen wir Einzelhandelsgeschäfte verkaufen und das Dienstleistungsgewerbe privatisieren.“

Viele in der Ukraine müssen sich bald umschulen lassen

Darunter fallen hauptsächlich Restaurants und Kantinen. Regionale Zeitungen sollen Verkaufslisten veröffentlichten. „Dann warten wir auf die Höchstgebote“, schmunzelt er. „Jede Sphäre folgt ihren eigenen Regeln“, betont Kottlik immer wieder, als müsse er, der flammende Befürworter, das schleppende Procedere argumentativ absichern. Um Großbetriebe zu zerlegen, fehlt es allerding noch an Vorstellungen. „Wer soll das kontrollieren? Vielleicht so eine Organisation wie die Treuhand....“, doch seine ausladende Handbewegung rückt das erst mal in weite Ferne.

Für Anja Iwanowna, Ende vierzig, hat die neue Wirtschaftsform schon jetzt etwas Bedrohliches. Seit 27 Jahren arbeitet sie in einem Zuschneidegeschäft, die Filiale eines großen Textilkombinats in Kiew. Früher haben die Frauen für den Theaterverband geschneidert. Heute fallen die Aufträge weg. Privatisierung? „Ist im Gespräch.“ Sie habe große Angst, ihre Arbeit zu verlieren, sagt sie offen. Der neue „Chosajn“ — der Hausherr — werde sicherlich viele der 120 Mitarbeiter entlassen. Hier wird alles noch mit der Hand gemacht, selbst das hundertfache Abzeichnen des Stoffes.

Wird es überhaupt einen Käufer geben? Anja und ihre junge Kollegin Ira zweifeln nicht daran, trotz der vorsintflutlichen Ausstattung des Betriebes. Ira hegt eher andere Bedenken: „Wer garantiert uns, daß der nächste Besitzer ein besserer Wirtschafter ist?“ Auch Schpitzer macht kein Hehl aus der drohenden Arbeitslosigkeit: „Doch lange ist bei uns keiner ohne Beschäftigung. Aber viele müssen sich umschulen lassen“, beschwichtigt er gleich. Vor allen Dingen die zahlreichen Rüstungsbetriebe müßten abspecken. Durch ein Dekret der Kiewer Regierung hat man sie bereits zum Eigentum der Ukraine erklärt. Jetzt steht eine Entscheidung über ihre weitere Verwendung an. Werden sie Staatsbetriebe bleiben? Eine andere Lösung gibt es zur Zeit wohl nicht. Denn der Ukraine fehlt das Geld. Die Moskauer Notenpresse liefert keine Rubel mehr. 20 Milliarden blieb sie allein im Dezember schuldig. Kiew führte daraufhin Behelfsnoten ein. Die meisten Geschäfte akzeptieren die alte sowjetische Währung nicht mehr. Nur noch Dienstleistungen, Taxi oder Theater lassen sich damit bezahlen. Das Nebeneinander der beiden Währungen hat die Privatisierung noch um ein weiteres verzögert.

Und in der Landwirtschaft? Auf der Kolchose „Druschba“, fünfzig Kilometer südlich Lwiws, fragt der Veterinärtechniker zweimal nach: „Privatisierung?“ Als habe er das Wort noch nie gehört. „Ende Februar findet eine Kolchosversammlung statt. Dann werden wir auch darüber sprechen.“ Enthusiasmus versprüht er keineswegs. Einige Versuche seien in der letzten Zeit gelaufen. Voriges Jahr hätte ein Bauer einige Hektar gepachtet: „Der ist auch erfolgreich gewesen, aber nur weil er ein eigenes Pferd besaß“, schränkt er gleich ein. „Der Maschinenpark reicht nicht aus, um alle Leute zu versorgen.“ Aber „alle Leute“ haben wohl auch kein Interesse an Selbständigkeit. Zumindest auf „Druschba“ hat es den Anschein, als hätten die Arbeiter auch unter den alten Bedingungen gut gelebt. Währenddessen wartet im Nachbardorf Olga Iwanowna vor dem Dorfladen auf die nächste Lieferung Brot. Es fehlt an Benzin, um es zu verteilen, nicht etwa am Korn. Sie springt sofort an. „Eigenes Land? Auf jeden Fall!“ Doch dann kommt sie gleich auf die Maschinen zu sprechen. Die der Kolchose reichen einfach nicht. Und nirgendwo gäbe es welche zu kaufen. Allerdings habe das Ausland hier Abhilfe versprochen. Einige jüngere Leute haben wegen des Gerüchtes bereits Konsequenzen gezogen. „Sie sind zurückgekommen, um ihre eigene Wirtschaft zu gründen.“ Auch in diesem Dorf gibt es schon zwei leuchtende Beispiele. Schnell hätten es die beiden Bauern mit je zehn Hektar Land zu Geld gebracht. Auch Olga Iwanowna verknüpft Hoffnungen mit der Privatisierung. Ob sie als Weißrussin in der Ukraine Land pachten kann?