: Strafe für zu frühe „Wende“
Für das Landesarbeitsgericht Berlin ist die Demokratisierung in den Betrieben der Ex-DDR heute nicht mehr rechtsfähig/ Wer zu früh kam, dessen Sozialpläne haben heute keinen Bestand mehr ■ Von J. Kädtler und M. Kempe
Berlin (taz) — Wer zu früh kommt, den bestraft... das Landgericht. Erst jetzt wird ein Urteil des Berliner Landesarbeitsgerichts öffentlich, in dem ein Stück aktiv vollzogener „Wende“ in der damals noch bestehenden DDR für Unrecht erklärt worden ist. Am 25. September entschied das Gericht, daß ein gewählter Betriebsrat keinen rechtsgültigen Sozialplan verabschieden durfte. Grund: Der Betriebsrat war schon vor dem Inkrafttreten des bundesdeutschen Betriebsverfassungsgesetzes am 1. Juli 1990 gewählt worden. Damit wird von der bundesdeutschen Justiz für Unrecht erklärt, was Unrecht beseitigte: die Ablösung des undemokratischen DDR-Systems der Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) durch demokratisch legitimierte Belegschaftsvertretungen.
Wer zu früh demokratisiert, fällt in die Leere des rechtsfreien Raums, wer mit der Demokratisierung bis zum allerletzten Moment wartet, hat die Systemlogik der Justiz auf seiner Seite. Diese absurde Aussage des Landesarbeitsgerichts kam in einem Fall zustande, dessen Pikanterie darin liegt, daß es sich bei dem fraglichen Sozialplan ganz offensichtlich um den Versuch einer Selbstbedienung von Funktionären des ehemaligen Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) handelt. In einer Berufungsverhandlung hatte das LAG über den Sozialplan-Anspruch eines ehemals beim FDGB beschäftigten Malers zu verhandeln.
Noch monatelang nach der Wende hatten die alten FDGB-Kader alle Bestrebungen in DDR-Betrieben zur demokratischen Wahl autonomer Betriebsräte mit Macht bekämpft. Aber als es darum ging, die Konkursmasse dieser größten DDR-Massenorganisation zu verteilen, besann man sich plötzlich selbst auf dieses Instrument und ließ Ende Mai noch schnell einen Betriebsrat wählen. Mit dem wurde dann ein für die Verhältnisse der ehemaligen DDR äußerst großzügiger Sozialplan für die FDGB-Beschäftigten abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt stand bereits fest, daß der FDGB sich Ende Juni auflösen würde.
Es gibt sachliche Gründe, im vorliegenden Fall einen Sozialplan-Anspruch zu bestreiten: Die Bauabteilung, in der der Antragsteller beschäftigt war, ist nicht aufgelöst, sondern als rechtlich selbständiges Unternehmen ausgegliedert worden. Das Arbeitsverhältnis hat unter Anrechnung der FDGB-Beschäftigungszeiten fortbestanden. Aber dieser Zusammenhang hat für die Entscheidung des Berliner Gerichts keine Rolle gespielt.
Die Entscheidung des LAG beruht vielmehr auf der ebenso grundsätzlichen wie lapidaren Feststellung, daß vor der Übernahme des Betriebsverfassungsgesetzes zum 1. Juli 1990 in der ehemaligen DDR überhaupt keine Betriebsräte gebildet, also von ihnen auch keine Sozialpläne abgeschlossen werden konnten. Dies folgert das Gericht aus Grundsätzen, die die bundesdeutsche Arbeitsrechtsprechung in der Vergangenheit entwickelt hat: Wo das Gesetz keinen Betriebsrat vorsieht (z.B. bei Betrieben unter 20 Beschäftigten), können die Arbeitnehmer auch keinen wählen. Eine absurde Begründung für den jetzigen Urteilsspruch des Berliner LAG, denn die im Geltungsbereich des BVG entwickelten Kriterien für die Wahl von Betriebsräten werden damit auf die ganz andere Situation in der absterbenden DDR übertragen, in der das BVG mit seinen eine Betriebsratswahl ausschließenden Bestimmungen noch gar nicht galt. Für die Beschäftigten in der DDR ging es im Frühjahr 1990 vor allem darum, ob sie berechtigt waren, die über Jahrzehnte hinweg hoffnungslos kompromittierte Interessenvertretungsstaffage der Partei- und Staatsgewerkschaft beiseite zu schieben und erstmals seit 1948 wieder eigenständige Belegschaftsvertretungen zu wählen. Nicht viel überzeugender ist die Urteilsbegründung im Detail, wonach die für den Abschluß von Sozialplänen einschlägigen Paragraphen 111 und 112 des Betriebsverfassungsgesetzes im Juni 1990 noch nicht galten und damit die Rechtsgrundlage für den Abschluß von Sozialplänen gefehlt habe. Denn auch in der alten Bundesrepublik gab es den Sozialplan als Instrument sozialpolitischer Krisenbewältigung längst, bevor er 1972 mit der Neufassung des Betriebsverfassungsgesetzes durch die sozialliberale Koalition ins Gesetz geschrieben wurde. Im alten Betriebsverfassungsgesetz von 1952 kam nicht der „Sozialplan“ vor, sondern der „Interessenausgleich“ (72,1). Und dieser war für alle Betriebsänderungen, die „offensichtlich auf einer Veränderung der Marktlage beruhen“, ausgeschlossen. Dennoch wurde in der Kohlekrise während des großen Zechensterbens in den 50er und 60er Jahren das Instrument des Sozialplans entwickelt und auch in die Rechtsprechung aufgenommen. Dies alles wurde vom LAG ebensowenig berücksichtigt wie die Tatsache, daß der von den Regierungen der damaligen DDR und der Bundesrepublik geschlossene Einigungsvertrag auf die vorzeitig nach demokratischen Grundsätzen gewählten Betriebsräte Bezug nimmt und ihnen die Wahrnehmung der Betriebsratsrechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz bis zur Wahl eines neuen Betriebsrats übertrug. Daß diese Betriebsräte vor dem 1. Juli 1990 nicht rechtskräftig wirken durften, sagt der Einigungsvertrag keineswegs. Das Urteil des LAG aber folgt der obrigkeitsstaatlichen Maxime: Was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist definitiv verboten.
Die Betriebsratsgründer und -gründerinnen der Übergangszeit zwischen dem November 1989 und dem Inkraftreten der Wirtschafts- und Sozialunion im Juli 1990 haben sich dieses Motto nicht zu eigen gemacht. Sie wollten verhindern, daß die Beschäftigten in dem rechtlichen Vakuum der Übergangsmonate ohne den Schutz einer demokratisch legitimierten Interessenvertretung dastünden. Wenn die Rechtsauffassung des LAG zum Allgemeingut wird, stehen sie als die Dummen da. Hätten sie die verrufenen Betriebsgewerkschaftsleitungen bis zum letzten Tag im Amt lassen sollen? Die Berliner Landesarbeitsrichter scheinen dieser Auffassung zu sein. Denn ihr Urteil ist eine Prämie auf Anpassung und Einordnung bis zum letzten, eine Ohrfeige für diejenigen, die in den Betrieben der DDR die „Wende“ überhaupt möglich gemacht haben.
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