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Großstadt und gallisches Dorf

■ Berlin vor den Kommunalwahlen: Eine Serie über die 23 Bezirke/ Der Prenzlauer Berg ist der dichtbesiedeltste Bezirk Berlins/ Die Prenzlauer-Berg-Mischung ist anders als die Kreuzberger

Prenzlauer Berg. Wenngleich er nichts Erhebendes hat, das seinen Namen rechtfertigen würde, erhaben ist der Prenzlauer Berg allemal. Er umgibt sich gern mit einer Aura des Besonderen. Das war schon zu DDR-Zeiten so, als das riesige Altbaugebiet zwischen S-Bahn-Ring und Wilhelm-Pieck-Straße all jenen ein Rückzugsgebiet bot, die der staatlichen Reglementierung überdrüssig waren und die, wenn sie auch nicht das Ende der DDR intendierten, es doch initiierten. Die Adressen rund um den Kollwitzplatz lesen sich wie ein Who-is-who des Herbstes 1989. Prenzlauer Berg wurde zum Synonym für jenen Geist der Revolte, der eng mit Stadtteilstrukturen verwoben ist. Deshalb machten manche vorschnelle Beobachter dort bereits den östlichen Antipoden Kreuzbergs aus. Ein Vergleich, der bestenfalls zeitversetzt eine gewisse Tauglichkeit hat. Denn die spezifische Kreuzberger Bevölkerungsmischung ist Resultat der weitgehenden Vertreibung der alteingesessenen Bewohner in den sechziger und siebziger Jahren- ein Prozeß, der in Prenzlauer Berg — noch — nicht stattgefunden hat. Denn wie im SO 36 der sechziger Jahre steht hier fast das gesamte Wohngebiet vor der Sanierung. Der Prenzlauer Berg ist das größte noch erhaltene Gründerzeitensemble der Stadt. Er war Anfang der zwanziger Jahren das am dichtesten besiedelte Berliner Viertel. Mit 316.659 Einwohnern auf gut 10 Quadratkilometern (1920) dürfte er Weltniveau gehabt haben. Die Zahl der Bewohner hat sich bis heute auf die Hälfte reduziert. Sie leben in knapp 90.000 Wohnungen, die sich zum größten Teil im Besitz der Wohnungsbaugesellschaft Prenzlauer Berg (WIP) befinden. Deren Geschäftsführer, Klaus-Jürgen Fritsche, schätzt den Sanierungsbedarf in seinem Unternehmensbereich auf 5 Milliarden Mark. 50.000 Wohnungen müssen erneuert werden. In zehn Jahren will Fritsche die Renovierung des Prenzlauer Berges geschafft haben. Doch so ergeizig das Ziel, so knapp sind die Mittel, die zur Verfügung stehen. 250 Millionen Mark wurden bislang verbaut.

Neues Geld ist nur vom Land oder Bund zu erwarten. Kreditmittel kann der Sanierungsträger nicht erschließen, denn er kann keine Sicherheiten bieten. Die Häuser gehören ihm nicht, auf zwei Drittel wurden Restitutionsansprüche erhoben, deren rechtliche Klärung Jahre dauern wird. Und so droht der Sanierungsprozeß ins Stocken zu geraten, bevor er richtig begonnen hat. Aus dieser Situation weist Baustadtrat Matthias Klipp einen unorthodoxen Weg. Er findet es unsinnig, das Westberliner Modernisierungsprogramm einfach zu übertragen, denn »dann kann man nicht mehr als zwei Straßen pro Jahr machen«. Statt dessen fordert er ein Grundinstandsetzungsprogramm: Dach- und Fassadensanierung sowie Trockenlegung. Die Verbesserung der Innenausstattung kann später erfolgen. Der Mieter hat zwar vielleicht nicht den erträumten Komfort, dafür aber muß er auch nicht, wie bei der Modernisierung nach Westberliner Muster, eine Verdopplung der Miete fürchten. Ähnlich unkonventionelle Wege will der Baustadtrat auch bei der Beseitigung des Leerstandes beschreiten. 1.855 Wohnungen, die, wie es amtsdeutsch heißt, »mit geringem Aufwand vermietungsfähig« sind, will er an den Mann bringen. Die zukünftigen Mieter sollen selbst Hand anlegen, ihre Eigenleistungen werden mit der Miete verrechnet. Klipps größter Wunsch ist, »daß die, die wollen, auch in zehn Jahren noch hier wohnen können«. Dazu dient ihm auch eine Erfindung der Kreuzberger Sanierungsstrategen. »Behutsame Stadterneuerung« soll im Prenzlauer Berg praktiziert werden. Mit Betroffenenvertretungen wird bereits zusammengearbeitet, demnächst wird ein »runder« Sanierungstisch ins Leben gerufen.

Allerdings wird sich in Prenzlauer Berg einiges verändern. Denn die Bevölkerungsstruktur ist in eine ziemliche Schieflage geraten, die Wirtschaft ist völlig marode. Die wenigen größeren Betriebe im Bezirk wurden eingestellt oder mit geringerer Personalstärke fortgeführt. Die Wirtschaftsszenerie wird vom Einzelhandel und kleinen Dienstleistungsunternehmen beherrscht. Private Produktionsbetriebe, die es nach Kenntnis des CDU-Bezirkspolitikers Wolfgang Richter vor 20 Jahren noch gab, seien »zwangsvervauebetisiert worden«. Über 20 Prozent stieg mittlerweile die Arbeitslosenrate, viele pendeln in den Westen Berlins. Zwar stehen im Bezirk über tausend Gewerberäume in Hinterhöfen leer, doch sind sie in einem völlig desolaten Zustand. Das Geld zur Sanierung fehlt. Von einer Kreuzberger Mischung ist der Prenzlauer Berg noch ziemlich weit entfernt.

Statistisch betrachtet sind die Prenzelberger die Singles unter den Berlinern. 41 Prozent von ihnen lebt alleine, und das sind vor allem junge und alte Leute. Familien mit Kindern zog es früher eher in die Neubaugebiete. Statt ihrer kamen Leute wie Marie-Luise Dittmer, die »die Symbiose zwischen dörflicher und großstädtischer Struktur« schätzten. Die Philosophin richtete sich in der Prenzlauer Nische ein und engagierte sich schon zu DDR-Zeiten in einer Kiezinitiative. Im Herbst 1989 landete sie bei der Bürgerbewegung. Diese hat nach wie vor rund um den Kollwitzplatz eine ihrer Hochburgen, ist aber — und darin ihrem Kreuzberger Gegenstück gleich — in sich völlig zerstritten. Mindestens zwei Gruppierungen aus diesem Spektrum werden zu den Bezirkswahlen antreten, nicht zu vergesen die »Unabhängige Aktion Wydoks«, die den Etablierten das Fürchten lehren will.

Am Prenzlauer ranken sich, wie am Kreuzberg, die Konflikte um Basisdemokratie und Parlamentarismus, werden hie Fundis ausgemacht und dort Realos geortet. Nichtsdestotrotz hat nach Einschätzung des Baustadtrates Klipp die rot-grüne Zusammenarbeit, die seit den Wahlen im Mai 1990 im Bezirksamt praktiziert wird, gut geklappt. Auch wenn in dieser Zeit gegen zwei SPD- Stadträte Abwahlanträge gestellt wurden und einer inzwischen seinen Hut nehmen mußte, für grundsätzlichen Parteienhader im Bezirksamt ist wenig Platz. Das sieht selbst die oppositionelle CDU so. Ihren Fraktionsvorsitzenden Richter ärgert zwar »persönlich sehr«, daß im Bezirk noch immer nicht alle belasteten Straßennamen umbenannt sind, weil sich das Bündnis 90 dagegen sperrte, doch hindert ihn das nicht, für deren Baustadtrat lobende Worte zu finden. Man ist halt, so umschreibt Richter den Blickwinkel, »hier anders als in anderen Teilen Berlins«, man ist »an dem orientiert, was am Prenzlauer Berg passiert«. Dieter Rulff

Am nächsten Freitag wird die Serie mit dem Bezirk Zehlendorf fortgesetzt.

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