: Noch keine Entspannung in Kaschmir
■ Marsch der Unabhängigkeitsbewegung JKLF auf Indisch-Kaschmir „vorerst abgebrochen“/ Truppen Indiens und Pakistans weiter in Alarmbereitschaft/ Regierungen unter innenpolitischem Druck
Berlin (taz) — Amanullah Khan, Chef der „Befreiungsfront für Jammu und Kaschmir“ (JKLF), die für die Unabhängigkeit des indischen Kaschmir kämpft, ist gestern in die Stadt Muzaraffabad im pakistanischen Teil Kaschmirs zurückgekehrt. Der von derJKLF organisierte Marsch sei „vorerst abgebrochen“, erklärte Khan, um nicht noch mehr Menschenleben zu gefährden. Bei den schweren Auseinandersetzungen zwischen pakistanischen Soldaten und Teilnehmern des Zuges zur indo-pakistanischen Kontrollinie waren 15 Menschen umgekommen, über 100 wurden verletzt.
Unklar blieb vorerst, ob der Abbruch des Marsches auf Verhandlungen zwischen Khan und den pakistanischen Behörden zurückzuführen ist, wie Islamabad behauptet. Während Khan erklärt, er sei am Mittwoch von den Behörden festgenommen worden, blieb die pakistanische Regierung bei ihrer Version, wonach Khan mit den Behörden über eine Lösung der kritischen Lage beraten habe.
Die Truppen Pakistans und Indiens bleiben in Alarmbereitschaft. Auch in Srinagar, der Sommerhauptstadt im indischen Teil Kaschmirs, kam es gestern wieder zu Unruhen. Mehrere Menschen wurden verletzt, als die Polizei gegen eine Demonstration für die Unabhängigkeit Kaschmirs gewaltsam vorging.
„Wir haben drei Kriege gegen Indien geführt. Wir wollen keinen vierten“, sagte der pakistanische Ministerpräsident Nawaz Sharif am Mittwoch beschwörend, „aber der Konflikt muß jetzt gelöst werden.“ Wie groß die Furcht vor einer Ausweitung der Spannungen in Kaschmir gegenwärtig in beiden Staaten ist, zeigt auch der von Beobachtern als „Panikreaktion“ bezeichnete Schritt der indischen Regierung, die sich in der vergangenen Woche an die fünf ständigen Vertreter des Weltsicherheitsrates gewandt hatte: Sie mögen mäßigend auf die Regierung in Islamabad einwirken.
Dabei hat die Regierung in Neu Delhi bislang jeden Versuch, eine internationale Lösung des seit 1948 bestehenden Streits um Kaschmir herbeizuführen, vehement abgelehnt. Die Kaschmirfrage, hieß es stets, sei eine interne Angelegenheit, es könne höchstens bilaterale Verhandlungen zwischen Pakistan und Indien geben. Das indische Außenministerium versicherte am vergangenen Wochenende denn auch, es habe keinesfalls eine formelle Bitte an die UNO gerichtet. Die fünf Weltsicherheitsratsrepräsentanten seien nur in ihrer Kapazität als „Vertreter wichtiger Staaten“ angesprochen worden.
Der Streit um Kaschmir hat das Verhältnis Pakistans zu Indien seit der Unabhängigkeit beider Staaten geprägt: Der erste Krieg endete 1949 mit einem formellen Waffenstillstand, bis heute sind an der Kontrolllinie UNO-Blauhelme stationiert. Zwei Drittel der Region fielen unter indische Kontrolle, der Rest an Pakistan. 1965 und 1971 kam es erneut zu kriegerischen Auseinandersetzungen um das fruchtbare und landwirtschaftlich genutzte Kaschmirtal. Die formelle Verwaltung in dem von ihm beherrschten Azad Kaschmir übernahm Pakistan 1974.
Für die — zu zwei Dritteln moslemische — Bevölkerung des indischen Teils Kaschmirs, den Neu Delhi 1957 unter der Bezeichnung „Jammu und Kaschmir“ zum Bundesstaat erhoben hatte, erwies sich die Beziehung zu Indien von Anfang an als eine Geschichte gebrochener Versprechungen. Eine Volksabstimmung, so kündigte Indien den Kaschmiris bereits 1949 an, solle entscheiden, ob Kaschmir bei Neu Delhi verbleiben werde. Doch ein Plebiszit fand nie statt. Dies sei nicht mehr notwendig, argumentiert die indische Regierung heute, da die Teilnahme der Kaschmiris an den internen Bundesstaatswahlen bereits effektiv den Anschluß an Indien bedeutet habe. Auch der in der Verfassung versprochene hohe Grad an Autonomie erwies sich angesichts ständiger Einmischung aus Neu Delhi als Makulatur.
Auf die wachsenden Unabhängigkeitsforderungen und die zunehmend militanten und bewaffneten Aktionen kaschmirischer Gruppen reagierte die indische Zentrale mit eskalierender Gewalt. So vergeht heute kaum ein Tag ohne Berichte über Ermordungen, Entführungen und Folter durch indische Polizei, Paramilitärs oder Soldaten ebenso wie durch Terroraktionen kaschmirischer Organisationen.
Nawaz Sharif und sein indischer Amtskollege Narasimha Rao, die sich jüngst beim Weltwirtschaftsforum in Davos auf einen Abbau der Spannungen zwischen beiden Ländern verständigt haben, stehen unter innenpolitischem Druck. Sie müssen sich mit ihren Koalitionspartnern arrangieren. Und die — in Pakistan die islamistische Jamat-i-Islami und in Indien die hinduistische Bharatiya Janata Partei — haben Kaschmir zum Fokus ihrer chauvinistischen Politik gemacht. Jutta Lietsch
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