: Ich leiste mir meine Borniertheiten
■ Frank Castorf wird ab Sommer 1992 einen Neuanfang an der Ostberliner Volksbühne wagen. Zur Zeit bereitet er am Deutschen Theater eine Uraufführung vor. Sabine Seifert sprach mit dem Regisseur und kommenden Intendanten über die neue Inszenierung und sein Volksbühnen-Projekt
Frank Castorf, Jahrgang 1951, wuchs in Berlin auf. Er studierte Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität, arbeitete als Dramaturg in Senftenberg und Regisseur in Brandenburg, war schließlich zwischen 1981 und 1985 Oberspielleiter in Anklam. Seit 1989 ist er als Klassikerdemonteur an vielen bundesrepublikanischen und Schweizer Bühnen tätig: München, Hamburg, Basel und immer wieder Berlin, wo er am Deutschen Theater fest engagiert ist. Ab der kommenden Spielzeit will Frank Castorf die Leitung der Ostberliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz übernehmen. Als Hausregisseure sind Einar Schleef, Johann Kresnik und Andreas Kriegenburg im Gespräch; eine von Castorfs Bedingungen für die Vertragsunterzeichnung lautete, daß die Volksbühne von den Preiserhöhungen, zu denen vor allem die Ostbühnen durch die Preispolitik des Kultursenats gezwungen sind, ausgenommen wird. Schüler, Studenten, Rentner, Arbeitslose sollen dort weiterhin mit Karten für fünf Mark ins Theater gehen können. Ein programmatischer Anfang.
taz: Ist Realismus eigentlich ein Schimpfwort für Sie?
Castorf: Im Gegenteil. Realismus heißt einfach, Welt wahrzunehmen und sich mit Welt auseinanderzusetzen. Die Mittel dazu, die Methode, ist eine zutiefst realistische.
Bei den Proben zu „Hermes“ fielen häufiger solche Sprüche wie „Man muß den Realismus unterlaufen“, „mehr Künstlichkeit“ usw.
Nein, Realismus meine ich in dem Sinne, daß es mehr Tiefenschärfe kriegt. Also etwas Typisches im Sinne von „besonders“ herausprägt und nicht eine allgemeine Dallas-Geste, die eine affirmative Wirkung erzeugt, etwas, das man wiedererkennt. Eigentlich meint es, durch Realismus Paradoxa zu erzeugen: ein irritierendes Sehen. Trotzdem muß die Wirkung etwas mit der Natur, der realistischen Keimzelle, und das ist das Schwierige, zu tun haben. Auch der Surrealismus ist ja bloß ein Über-Realismus, und sicherlich sind da meine Vorbilder, bei den Dadaisten und Surrealisten.
Was heißt das, wenn Sie vom Schauspieler „eine private Spielweise“ fordern?
Ein Ton, den jemand sagt, weil er ihn nicht anders sagen kann. Etwas Abtropfendes: Ich bin so außer Atem, das ich in dem Moment nicht lügen kann, es muß raus, egal, was es jetzt bedeutet. Es hat keine Ideologie mehr, es ist Natur. Ich will nicht mehr erreichen, darum geht's. Man kann sich solche „Privatheiten“ nur leisten, wenn man vorher viel gekämpft hat, wenn der Mensch Marathon läuft. Danach hat er keine Zeit für die Lüge, weil der Körper ihn extrem gemacht hat, da kommt dann etwas Wahres raus. Und das ist auch beim Theater wichtig, die Überraschung; das Gefährliche ist die Routine, daß man jeden Tag dieselben Abbilder serviert. Das Abenteuer, den Dilettantismus, das Infantile mit einem hochprofessionellen Punkt in Übereinstimmung zu bringen oder in ein Widerspruchsverhältnis zu bewegen, das ist das Schwierige. Eine Ordnung zu erzeugen, die man als Schauspieler sofort wieder bereit ist, in Unordnung zu bringen. Das heißt eine Wirkung und eine Liebe beim Zuschauer zu erzielen, damit der sagt: Er ist sehr, sehr gut, und gleichzeitig ist er der Teufel. Also gegen das „Ich umarme dich“ vom Zuschauer anzukämpfen.
Das heißt für den Schauspieler, einen bestimmten Gestus zu finden, aber ihn bloß nicht konservieren...
Gestus in jeder Szene, ja — das soziale Verhalten als Gestus —, aber nicht diese Illustration: Ich finde meine hypertrophierte Figur. Eigentlich ist jeder Engel und Teufel, und was ich mache, sind immer wieder Märchen, nichts weiter.
Ist „Hermes“ für Sie ein Stück abgeschlossene DDR-Epoche?
Nein, das Stück selbst könnte für mich auch in London oder Paris spielen, es ist fast im sozialen oder politischen Sinne wertneutral. Unser Ansinnen war es, den Text durch DDR- Konkretheit zu einem Zeugnis aus der Zeit vor der Maueröffnung zu machen. Dieses Verhalten, diese Tabuisierungen nicht zu verdrängen, die ja heute immer noch da sind: Wann man leiser oder lauter spricht, wann man zuviel „jawoll“ sagt. Sich daran wieder zu erinnern, zu sagen, so sind wir, und sich nicht immer anpassen zu wollen. Das ist ein Riesenvorteil zu sagen: Ich leiste mir meine Borniertheit, in einer Gesellschaft, wo man nur noch zu funktionieren hat.
Kommt Ihnen die Vergangenheit als etwas ganz Graues, Schreckliches vor, oder eher die Gegenwart?
Ach, wenn man sich selbst zu einer natürlichen Asozialität bekennt, dann ist man sich selbst und der Umkreis wichtig. Dann weiß man, daß jede Form von Staatlichkeit eine Feindseligkeit in sich hat. Man ist nicht mehr überrascht und erwartend, sondern sagt, wir müssen sehen, daß wir uns möglichst viel Freiraum erkämpfen. Insofern: Ich war nicht unglücklich früher, und bin heute nicht so sehr glücklich.
Soll Lothar Trolle Hausautor an der Volksbühne werden?
Wenn er Lust hat, gerne. Wir waren zusammen in Paris, beim Brecht- Kolloquium, und haben den berühmten Friedhof mit den Kommunarden besucht, den Père Lachaise, und da ist ihm die Idee für ein Musical gekommen. Den Text wollen wir aufführen. Für ihn ist alles nicht so wichtig. Er hat sich nie in die erste Reihe gedrängt, er ist ja schon sehr lange „junger Autor“, jetzt ist er Mitte vierzig.
Ivan Nagel hat sich für die Volksbühne eine junge, radikale Truppe gewünscht. So etwas kann man ja nicht dekretieren. Aber gibt es so etwas wie eine historische Chance durch den Umbruch?
Nun hat man so ein großes Theater inmitten von Berlin, da muß man sehen, daß man halbwegs was Anständiges damit anfängt. Ich habe mit vielen Leuten zusammengearbeitet. Jeder, der etwas Entschiedenheit in sich hat, der ist ganz gut. Um viel mehr geht es nicht; ob Avantgarde, radikal, das ist nur wichtig, wenn man hochguckt, das kann man sich sehr schön aufs Programm schreiben. Erstmal machen wir Stadttheater — das eine bestimmte Ausrichtung hat, wo man sagt: Ich leiste mir meine Borniertheiten und werde nicht sofort die Zeitung aufschlagen, um zu gucken, was die oder die Presse sagt. Man muß versuchen, wenigstens mit einer gewissen Anstrengung denken zu wollen, und nicht in dieser lebensfernen Nische Theater... da muß man herauskommen. Das ist schon wichtig, weil man sich dann Vitalität und eine Borniertheit leisten kann...
Was meinen Sie eigentlich mit Borniertheit?
Daß man sich zu sich selbst bekennt. Diese Ungezogenheit, diese Sturköpfigkeit, die jedes Kind hat oder jeder Greis. Bei jemanden, der in dieser Verwertungsmaschine Gesellschaft nicht wirklich tauglich ist, erst herangezogen und dann weggebrochen wird, da macht Theater auch wieder Sinn. Es gibt ja so einen merkwürdigen Zulauf von jungen Leuten, die nicht wissen, was macht man in der Gesellschaft... aha, jeden Tag ins Büro! Ich versteh' das, ich bin auch aus Faulheit zum Theater gegangen, und sicher auch, weil man in der DDR im Theater auch eine ziemliche Narrenfreiheit hatte, wo es in der Erinnerung nur schade ist, daß es nicht mehr Leute zu einer viel entschiedeneren Infragestellung von dieser Gesellschaftlichkeit DDR genutzt haben. Und da fängt ja auch der Opportunimus an.
Sie haben nicht diese Wehmut, wie viele DDR-Theaterleute heute, ach, damals sind wir noch ernst genommen worden...?
Ich bin ja nie ernst genommen worden.
Sie haben Ihre Vertragsunterzeichnung für die Intendanz an der Volksbühne von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht. Ging es dabei um Geld — so wie auch Thomas Langhoff seinen Vertrag für das Deutsche Theater von einem höheren Budget abhängig gemacht hatte?
Eigentlich ging es überhaupt nicht um das Geld. Die personelle Situation für einen Theaterbetrieb, wie er in diesem Bau der Volksbühne vorhanden ist, könnte ich mit einem Bruchteil des Geldes realisieren, aber ich müßte Leute zusammenorganisieren können, die ein ähnliches Bedürfnis an dieser Arbeit oder Ausrichtung dieser Arbeit haben. Das Entscheidende ist, welche personelle Situation können wir herbeiführen an der Volksbühne, womit können wir ein solches Programm ermöglichen? Durch die Zementierung der Verträge (Gewerkschaft und Deutscher Bühnenverein haben in Verhandlungen erreicht, daß unbefristete Arbeitsverträge übernommen werden müssen (beziehungsweise absoluter Kündigungschutz für alle diejenigen gilt, die bereits länger als 15 Jahre am Theater sind, d. Red.), müssen wir uns das dann eben von woanders finanziell borgen. Es ist absurd, es ist ein weiter funktionierender DDR-Betrieb. Das gibt's in Deutschland nur im Theater, wo alles gleich in den Adelsstand des Widerstandskampfes erhoben wurde.
Sie sprechen von „operativen Einheiten“. Wollen Sie die mit alten und neuen Leuten durchmischen?
Ja, sicher. Ich bin nicht für das Wiener Modell, wo Leute durch Geld kalt gestellt werden. Jeder, der Spaß hat, Theaterarbeit zu machen, eine Art kindliche Theaterarbeit, der soll und muß mit einbezogen werden.
Bleibt es bei Schleef und Kresnik als Hausregisseure?
Na ja, das sind Leute, die ich in den Stand setzen muß, arbeiten zu können. Aber auch andere: Wir gucken da sehr viel, in Polen, Rußland, Frankreich, um eben den DDR-Apparat, der es bleibt, mit einem Schuß Internationalität zu durchsetzen, Leute, die ein anderes Denken, eine andere Not, eine andere Lust, eine andere Physis einbringen. Das ist vielleicht eine Synthese, die irgendwann später spannend wird. Und ist ja bloß ein Versuch. Aber da uns ja sowieso keiner eine wirkliche Chance gibt, ist das wahrscheinlich nur von mir aus so ein querulatorischer Zug.
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