INTERVIEW
: „Einige dieser Typen fühlen sich nicht mehr so wohl“

■ Werner Finkelstein, Herausgeber des deutschsprachigen jüdischen Wochenblattes 'Semanario Israelita‘ in Buenos Aires, über die Öffnung der Nazi-Akten in Argentinien: „Wenigstens wurde das Gewissen aufgerüttelt“

taz: Seit Montag sind die freigegebenen Dokumente der argentinischen Ausländerpolizei über Nazi-Einwanderung für die Öffentlichkeit zugänglich. Sie haben sie am ersten Tag eingesehen. War etwas neues dabei?

Werner Finkelstein: Diese Archive waren für mich keine Offenbarung, sie bringen keine neuen Tatsachen, sondern bestehen hauptsächlich aus alten Zeitungsausschnitten, etliche aus meiner Feder. Auch die Photos waren allesamt bereits in Zeitungen erschienen, richtig neu sind nur die Fingerabdrücke von einigen Leuten. Gerüchteweise heißt es, daß sich das wirklich aufschlußreiche Material noch bei der Polizei und im Außenministerium befindet. Ob das wirklich innerhalb der nächsten zwanzig Tage — wie es im Dekret heißt — dem Generalarchiv zugeführt wird, wage ich zu bezweifeln. Ich vermute, daß die noch ausstehenden Papiere im Falle ihrer Veröffentlichung vorher gesäubert werden. Die jetzige Veröffentlichung war wohl eher ein außenpolitischer Schachzug Menems, um seine Europareise publizistisch vorzubereiten.

Sie hatten Ihre Heimatstadt Berlin 1939 als Vierzehnjähriger verlassen, sozusagen in letzter Minute.

Ich ging zuerst nach Bolivien. Ich kam 1948 nach Argentinien. Das war die Zeit, in der die Kriegsverbrecher aus Deutschland hierher flüchteten. Hans-Ulrich Rudel von der Luftwaffe tauchte auf, Willy Kurt Tank, der die Militärfabriken aufbaute, ein Spinner namens Richter, der Peron mit der Idee der Atombombe einseifte. Man wußte von Wilfried von Owen, dem Pressechef Goebbels'. Das waren zwar stramme Nazis, aber keine Kriegsverbrecher. Von der deutschen Kolonie wurden sie mit offenen Armen aufgenommen. Schon seit Beginn der dreißiger Jahre war der hiesige „Auslandsgau“ sehr stark und straff organisiert.

Ab 1937 strömten zehntausende jüdische Flüchtlinge nach Argentinien, denn es war eines der wenigen Länder, für die man — dank der blühenden Korruption — ein Visum bekommen, das heißt kaufen konnte. In Argentinien bestand daneben noch die Möglichkeit, als Erster-Klasse-Passagier ohne Visum einzureisen. Denn erste Klasse war gleichbedeutend mit „Kapitalist“. Wer erster Klasse reiste, kam, ohne von den Migrationsbeamten belästigt zu werden, vom Schiff.

Wie haben die jüdischen Flüchtlinge in Argentinien ihre friedliche Koexistenz mit den Nazis ausgehalten?

Es bestand immer eine klare Trennung zwischen der deutschen Kolonie und den jüdischen Emigranten, man kam sich nicht in den Quere. Das änderte sich mit der Gründung der Bundesrepublik, als man plötzlich bei offiziellen Empfängen in der Botschaft mit Gestalten zusammenkam, die man vorher nie getroffen hätte.

Es hätte ja auch die Möglichkeit der offenen sozialen Ächtung gegeben. Erstmals in diesen Tagen veröffentlicht die linksliberale Tageszeitung 'Pagina 12‘ einen Bericht über von Owen, samt Adresse und Foto. Warum haben das nicht jüdische Zeitungen Jahrzehnte vorher besorgt?

Das ist nie geschehen. Ich führe das darauf zurück, daß die konkreten Namen nicht bekannt waren. Natürlich bleibt rückblickend ein bitterer Geschmack übrig, und deshalb begrüße ich es, daß die Sache jetzt aufgerollt worden ist. Vorher hatte sich keine Regierung an dieses heiße Eisen herangetraut, denn höchste Dienststellen bei Regierung und Militär sind darin verwickelt. An deren Händen sind für die Pässe sicherlich riesige Summen kleben geblieben, da zumindest die großen Fische mit genügend Geld gekommen sind. Viele gefälschte Pässe hatte ihnen auch der Vatikan zukommen lassen. Der argentinische Antisemitismus hatte ja keinen rassischen oder „völkischen“ Hintergrund, wie in Deutschland, sondern einen rein religiösen: nämlich weil die Juden Jesus Christus umgebracht haben. Damit hat die katholische Kirche, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den bis heute in Lateinamerika existierenden Antisemitismus geschaffen. Und unter Peron, der weniger ein Nazi als ein Faschist, ein Anhänger Mussolinis war, gab es in Argentinien keinen Antisemitismus, im Gegenteil. Argentinien war eines der ersten Länder, die den Staat Israel anerkannten.

Wie geht es jetzt weiter?

Einige haben vorgeschlagen, die Register der Zentralbank zu Rate zu ziehen, um den Nazi-Investitionen auf die Spur zu kommen. Das wäre sicher interessant, ist aber meines Erachtens unrealistisch. Selbst wenn heute noch Belege vorhanden sind, gibt die Zentralbank nur aufgrund eines Gerichtsurteils Daten preis. Wir müssen abwarten, was in den nächsten Wochen beim Generalarchiv eintrifft. Danach können wir beim Minister nachhaken, warum die Dokumente zurückgehalten werden. Es fehlt zum Beispiel die komplette Akte Eichmann. Über Umwege haben wir erfahren, daß dieser Akte vierzehn Seiten fehlen. Es würde mich nicht wundern, daß die Namen der Personen, die damals seine Einreise ermöglicht hatten, nicht genannt werden. Was wir dann machen? Nichts. Wir können noch ein wenig in der Presse auf dem Thema herumreiten. Inzwischen sind die Schuldigen entweder tot oder Ende siebzig oder achtzig. Nach dem Sturz Perons (im Jahre 1955 — Anm.d.Red.) und nachdem Eichmann geschnappt wurde, haben viele das Weite gesucht — Mengele, Degrelle, Rudel. Doch auch wenn nicht mehr herauszukriegen ist, durch die Presseberichte wurde das Gewissen wenigstens aufgerüttelt, und einige dieser Typen fühlen sich seitdem nicht mehr so wohl wie vorher.

Das Interview führte Gaby Weber