piwik no script img

Die Tüchtigen und das Glück unterm Denker

■ Otto Sander las Kracauer und Polgar bei fnac

Auf einem Nebenschauplatz der Berlinale erscheint Freitag mittag um halb zwölf Otto Sander und liest Kracauer. Laut und deutlich und mit gewohnt sonorer Stimme, aber am Publikum vorbei. Man hat ihm den falschen Text ausgesucht. Sander liest nämlich auf einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines neuen Buches. Ein netter Einfall, zugegeben.

Bei dem Buch handelt es sich um das Resultat der Zusammenarbeit von Argon-Verlag, Deutscher Kinemathek und dem Filmhistoriker Wolfgang Petersen, anläßlich der Berlinale bereits zur lieben Gewohnheit geworden. Der diesjährige Titel: Babelsberg. Eine Filmstudie 1912-1922, ein schönes, informatives und sicher brauchbares Buch mit Aufsätzen, Drehberichten und ähnlichem, von Fritz Lang bis Rolf Giesen plus den üblichen großartigen »Wie sie es gemacht haben«-Fotos, vom Kostümfundus über Asta Nielsen bis zur Legende von Paul und Paula. Darin eben auch Kaliko-Welt von 1926, ein Text Siegfried Kracauers über einen Besuch in den Babelsberger Studios.

Kracauers Stil ist emphatisch und analytisch, mit dem gewohnten Hang der marxistisch geschulten Denker zur kokonhaft gefaßten Sentenz zwischen breit gestreutem Fundmaterial. Kracauer schaute sich in Babelsberg um und sah etwa folgendes: »Ein achtbarer Wolkenkratzer türmt sich längst nicht so schwindelhaft, wie er dann auftritt. Nur die untere Hälfte wurde errichtet, die obere wird durch ein Spiegelverfahren aus dem kleinen Modell gewonnen. Die Kolosse sind damit widerlegt; mögen ihre Füße tönern sein, die höheren Partien sind unsubstantieller Schein des Scheins, der aufgestülpt wird.« Und so weiter.

Laut gelesen, verschwimmen Beobachtung und pointierte Analytik zum faden Denkbrei. Das Gehirn kann so schnell nicht die Richtung wechseln, muß für bare Münze nehmen, was sich bei genauerem Hinsehen als intellektuelle Scheidemünze entpuppen könnte. Im fnac-Saal zwischen Holzpaneelen und Kaffeebar blättern die hinteren Reihen verstohlen im Rezensionsexemplar. Otto Sander kann nichts dafür.

Dann wird zum Ortswechsel geblasen, »zum Denker«, was viele verblüfft aufhorchen läßt. Im Untergeschoß hat man eine kleine Marlene- Dietrich-Ausstellung präpariert. Der Denker entpuppt sich als Monumentalplastik. Rodin, auch ein achtbarer Wolkenkratzer, wer hätte das gedacht. Auch für Marlene hat man sich der Dienste Otto Sanders versichert. Der liest im Stehen Alfred Polgars Im romantischen Gelände, ein Feuilleton von 1928, ebenfalls über Babelsberg, auch aus jenem Buch. Hat zwar nix mit Marlene zu tun, oder wenigstens nur ganz am bei solchen Gelegenheiten gerne strapazierten Rande, aber sei's drum. Sander hat sich den Text vergrößern lassen, was man ihm bei der Miniaturschrift des Buches nicht verdenken kann. Polgar bekam Ähnliches geboten wie Kracauer und sah das Ganze so: »Reges Walpurgisnachtleben, Geschrei, Musik, Blitz und Donner, Erscheinungen, prominente wie auch nackte, Zischen blauweißer Flammen, Larven, Lemuren und Regisseure, Gespenster im Tageslicht, Tagwesen im Gespensterlicht.« Das liest sich natürlich wie Butter.

Im schummrigen Halbrund hinter dem Denker hängen übrigens ein paar ausgezeichnete Fotografien aus der Frühphase Marlenes inklusive Klassenfoto. Hinzu kommen, in zwei Vitrinen, a) ein goldener Seidenschuh, in dem sie 1963 über eine Berliner Bühne getanzt sein soll, b) eine Marlene-Büste des Bildhauers Ernesto de Fiori, c) ein Originaldrehbuch vom Blauen Engel, d) eine Handvoll Notizen und Mitteilungen auf Briefpapier eines Salzburger Hotels und d) das Poesiealbum einer Mitschülerin aus dem Jahre 1918. Eintragung Marlene Dietrich: »Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige.« Das muß einen jungen Mann vom Fernsehen stark beeindruckt haben: vom Fleck weg heuert er eine ältere Dame im Polstersesselchen für eine Marlene-Dokumentation an. Sie hat das Klassenfoto zur Verfügung gestellt. Günther Grosser

Marlene Dietrich — Fotoausstellung bei fnac, Meineckestraße, zu den üblichen Geschäftszeiten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen