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Gebrochene Menschen verlassen die Knäste

In Syrien sollen zehn Jahre nach dem Aufstand von Hama 2.864 politische Gefangene amnestiert werden/ Menschenrechtsgruppen werden weiterhin gnadenlos verfolgt/ Es gibt keinerlei Anzeichen für eine politische Öffnung  ■ Von Jürgen Loer

Hama, Syrien, im Februar 1982: Am Ende kommen die Bulldozer und sammeln die Leichen auf. 10.000 sollen es gewesen sein, sagen die einen; andere reden von 20.000, und der Chef eines der berüchtigten syrischen Geheimdienste behauptet in vertraulichen Gesprächen sogar, 40.000 Syrer hätten ihr Leben gelassen. Auch heute, zehn Jahre später, kann man über die Zahl der Toten jenes Aufstandes nur spekulieren, der am 2. Februar 1982 in Hama, Syriens viertgrößter Stadt, beginnt. Er wird von der religiösen Opposition, der Muslimbruderschaft, organsiert und hat den Sturz des verhaßten Präsidenten Hafis el-Assad zum Ziel. Drei Wochen benötigen syrische Eliteeinheiten, um das zu vollenden, was in Syrien gemeinhin „Jahrhundertmassaker“ genannt wird.

Hama, Syrien, im Februar 1992: Eine Stadt hofft. Vielleicht sind unter den 2.864 politischen Gefangenen, deren Freilassung das Regime vor kurzem ankündigte, auch die Überlebenden jener Tragödie von vor zehn Jahren, die das äußerst zweifelhafte Glück hatten, „nur“ in syrischen Gefängnissen zu landen und dort den Folterknechten des Regimes ausgeliefert zu sein. Die Hoffnung einiger weniger wird erfüllt, die meisten warten aber immer noch.

Schätzungsweise 14.000 politische Häftlinge

Nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Diktaturen in Osteuropa, die zu Syriens wichtigsten außenpolitischen Verbündeten gehörten, und nach der Golfkrise, die Syrien mangels Alternative ins westliche Lager zurückkehren ließ, keimten Hoffnungen auf eine Liberalisierung und Demokratisierung einer der repressivsten Diktaturen der Welt. Vor allem warten die Angehörigen und Freunde von 14.000 politischen Gefangenen — so die von Menschenrechtsorganisationen geschätzte Zahl — auf deren Freilassung. Zwar wurden bereits im Laufe des Jahres 1991 einige hundert freigelassen, ob aber die angekündigten 2.864 politischen Gefangenen tatsächlich freigelassen worden sind, ist kaum zu überprüfen. Menschenrechtsorganisationen konnten nur einige hundert Freilassungen bestätigen.

Aber in den letzten Tagen erhielten allzu euphorische Erwartungen über eine allgemeine Liberalisierung einen empfindlichen Dämpfer: Während das Regime mit der einen Hand die Gefängnistore einen Spalt öffnet, greift es mit der anderen Hand nach neuen Opfern. Waren es bisher vor allem Muslimbrüder und Kommunisten, so werden in diesen Tagen auch die Mitglieder der im Untergrund arbeitenden syrischen Menschenrechtsorganisation CDF (Committees for the Defense of Democratic Freedoms and Human Rights in Syria) verfolgt, die am 10. Dezember 1989 gegründet wurde und über Kanäle ins westliche Ausland Informationen zu Menschenrechtsverletzungen in Syrien verbreitet. Zwei Jahre lang suchte der syrische Geheimdienst fieberhaft nach den Mitgliedern dieser Organisation. Erst im Dezember letzten Jahres gelang es ihm, in der nordsyrischen Hafenstadt Lattakiyah einen der führenden Köpfe der CDF festzunehmen, den 40jährigen Rechtsanwalt Aktham Nouaissa. In den letzten Wochen gingen 35 weitere Sympathisanten und Aktivisten den Häschern Assads ins Netz; die meisten werden gefoltert, wie Aktham Nouaissa, dessen gesundheitlicher Zustand als äußerst ernst bezeichnet wird (siehe taz vom 20.1.92). Auch vor anderen bewährten Mitteln schreckt Assad nicht zurück: Nida Jurj Shahud, Frau eines gesuchten CDF-Aktivisten, wird zusammen mit ihrem zwei Jahre alten Kind als Geisel festgehalten, bis sie den Unterschlupf ihres Mannes verrät oder der sich den Behörden stellt.

Der Fall Riad al Turk

Glasnost, Perestroika, Golfkrieg und Nahostfriedensverhandlungen änderten die Menschenrechtssituation in Syrien nur in einer Hinsicht: Syrien ist — zusammen mit dem Irak — Spitzenreiter unter jenen Staaten geworden, die systematisch Menschenrechte verletzen. Nach der Freilassung des Südafrikaners Nelson Mandela gebührt Hafiz al-Assad sogar der Ruhm, die „dienstältesten“ politischen Gefangenen der Welt zu beherbergen: die Repräsentanten jenes Flügels der seit 1963 herrschenden Baath-Partei, gegen die er sich am 16. November 1970 an die Macht putschte und die seitdem im Gefängnis sitzen. Für sie besteht genauso wenig Hoffnung auf Freilassung wie für Riad al-Turk, Führer der von der legalen KP abgespaltenen und oppositionellen „KP-Politbüro“. Riad al- Turk vertrat bereits in den frühen siebziger Jahren politische Positionen, für die Jahre später Michail Gorbatschow den Friedesnobelpreis bekam. Riad al-Turk wurde anders belohnt: Seit über elf Jahren sitzt er im Gefängnis und wird so schwer gefoltert, daß es an ein Wunder grenzt, daß er noch lebt.

Damaskus will Einfluß auf Intifadah stärken

Es ist kaum damit zu rechnen, daß Menschenrechtsorganisationen in absehbarer Zeit in Syrien arbeitslos werden. Vor allem die Freilassung von Mitgliedern der Muslimbruderschaft, Erzfeind des Assad-Regimes, ist weniger auf einen Humanitätsanfall des Präsidenten zurückzuführen als auf einen Deal mit der islamistischen Hamas-Bewegung in der israelisch besetzten Westbank und dem Gaza-Streifen sowie der Muslimbruderschaft im benachbarten Jordanien: Als Gegenleistung für die Freilassung der moslemischen Glaubenskämpfer soll Syrien mehr Einfluß bei der Intifada erhalten und ein politischer Waffenstillstand mit der jordanischen und damit auch syrischen Muslimbruderschaft erreicht werden. Politische Gefangene anderer Couleur können nicht damit rechnen, aufgrund des Einflusses politisch Gleichgesinnter im Ausland auf freien Fuß gesetzt zu werden; wer setzt sich heutzutage schon für Kommunisten ein, die neben Muslimbrüdern das Gros der politischen Gefangenen in Syrien stellen? Solche Gefangene müssen andere Voraussetzungen erfüllen, bevor sie die Stätte ihres oft jahrelangen Leidens verlassen können: Die meisten der Freigelassenen sind gesundheitlich ruiniert, sind gebrochene Menschen, gelähmt, erblindet oder, wie in einigen Fällen, geistig so verwirrt, daß sie nicht einmal mehr ihre Angehörigen wiedererkennen. Von ihnen hat Assad nichts mehr zu befürchten.

Operation weiße Weste des Präsidentenbruders

Die Freilassung von — offiziell natürlich nicht existierenden — politischen Gefangenen ist natürlich auch eine billige Reklame gegenüber den neuen Freunden, den westlichen Demokratien, um deren in den achtziger Jahren verlorenes Wohlwollen wiederzuerlangen. Auf eine andere Art und weniger seines Vaterlandes als seiner selbst willen tut sich bei dieser Imagepflege Rifat al-Assad, Vizepräsident und Bruder des Präsidenten, hervor. Übel beleumdet wegen seiner zentralen Rolle bei diversen Massakern in Syrien — Hama 1982 war nicht das erste — und seiner Korruptheit, führt er momentan in Europa eine „Operation weiße Weste“ durch. In Frankreich — wo er die meiste Zeit lebt — und in Großbritannien verklagt er reihenweise Journalisten und Buchautoren, die ihn so schildern, wie er nun mal ist, auf Schadenersatz in Millionenhöhe. Dabei geht es ihm nicht um das Geld, wovon er mehr als genug hat, sondern um eine gerichtliche Bestätigung, daß die über ihn gemachten Aussagen nicht-beweisbare Behauptungen sind. Zu den Opfern Rifat al- Assads gehören bisher der Leiter der Nahost-Abteilung bei 'afp‘, ein ehemaliger Chef des französischen Auslandsgeheimdienstes, der in seinen Memoiren wenig Schmeichelhaftes über Rifat al-Assad zu berichten weiß, sowie der angesehene britische Verlag I.B. Tauris, der eine Biographie über Hafiz al-Assad veröffentlichte. In Pariser Buchläden wird dieses Werk des Journalisten Patrick Seale nur noch unter dem Ladentisch verkauft, nachem auch sie Adressaten von Rifat al-Assads Drohungen geworden sind.

Das Etikett der Verpackung wird also geändert, während der Inhalt gleich bleibt: Einer Art Rotationsprinzip folgend, wird seit Anfang Februar eine neue Verhaftungswelle gegen die „Partei der kommunistischen Aktion“ ausgeführt, von deren Mitgliedern in den vergangenen Monaten eine Vielzahl aus den Gefängnissen entlassen worden ist. So besteht auch zehn Jahre nach der Hama- Tragödie wenig Aussicht, daß in Syrien demokratische Verhältnisse ausbrechen; daran ändert auch die Zulassung einer neuen Partei nichts, die nur die Anzahl der Marionetten in der die Regierung bildenden „Nationalen Progressiven Front“ erhöht. Noch nicht einmal der seit über zwei Jahren überfällige Kongreß der herschenden Baath-Partei ist bis dato einberufen worden. Hoffnungen auf einen innenpolitischen Kurswechsel sind an diesen Kongreß geknüpft, über den Assad grundlegende Entscheidungen zu verkünden pflegt. Verzweifelt-hoffnungsvoller Kommentar eines syrischen Oppositionellen zu dieser trostlosen Lage: „Das ist eine schlimme Sache. Aber wir sind optimistisch.“

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