: „Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben“
■ Der PDS-Abgeordnete Gerhard Riege erhängte sich nach der Auseinandersetzung um seine Stasi-Vergangenheit
Jena (dpa) — Der Jenaer Bundestagsabgeordnete der PDS/Linke Liste, Gerhard Riege (61), hat sich am Samstag mittag in einem Garten in Geunitz bei Jena (Thüringen) erhängt. Für den PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi stand „außer Zweifel, daß seine Handlung in engstem Zusammenhang mit der Veröffentlichung seiner Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit in der Zeit von 1954 bis 1960 steht“. Diese Kontakte seien inhaltlich bedeutungslos gewesen und bereits vor 32 Jahren beendet worden, erklärte Gysi.
In einem Abschiedsbrief an seine Frau schrieb der Professor für Staatsrecht: „Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben. Sie ist mir in der neuen Freiheit genommen worden. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich mich nicht wehren kann.“ Er habe Angst vor dem Haß, der ihm im Bundestag entgegenschlage „aus Mündern und Augen und Haltung von Leuten“. Neben Jutta Braband und Ilja Seifert gehörte Riege zu den drei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste, die laut Überprüfung der Gauck-Behörde für die Staatssicherheit gearbeitet haben. Die Mitglieder der Bundestagsgruppe PDS/Linke Liste hatten sich nach der Veröffentlichung der Stasi- Kontakte einmütig für eine weitere Zusammenarbeit und Solidarität mit Riege ausgesprochen. „Es hat offensichtlich nicht gereicht, um ihm die Angst vor für ihn unerträglicher gesellschaftlicher Ächtung zu nehmen.“
In Bonn gehörte Riege zu den besonders unauffälligen Abgeordneten aus den neuen Bundesländern. Dem 61jährigen war fast anzusehen, daß er sich so manches Mal selbst fragte, was ihn eigentlich in den Bundestag verschlagen hatte. Um so mehr litt er unter den Anfeindungen und der Isolation, die den Alltag der PDS-Abgeordneten in Bonn bestimmen. Dabei genoß er den Ruf eines besonders sensiblen und auch integren Mannes.
Ein Mann wie Riege muß bei aller später zugestandenen Kritik an Fehlentwicklungen den Untergang der DDR auch als persönliche Katastrophe erlebt haben. Der Autor des Standardwerks Die Staatsbürgerschaft der DDR und letzte Dekan der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Friedrich- Schiller-Universität in Jena vor der Wende stritt vor Gericht um seine Wiederzulassung als Hochschullehrer. Wie es heißt, standen die Aussichten nicht schlecht, zumal er sich auch nach der Wendezeit einen guten Ruf in Jena bewahren konnte. Er gehörte Anfang 1990 auch zu den Autoren eines Verfassungsentwurfs für Thüringen.
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