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20 Millionen Soldaten ergeben 4.000 Tonnen Akten

■ Die ehemalige Wehrmachtsauskunftstelle ertrinkt in Arbeit/ Nach dem Mauerfall sind weitere zwölf Millionen Personalunterlagen aufgetaucht

Reinickendorf.Hunderte von Metern rote Backsteinbauten am Reinickendorfer Eichborndamm: Das Gelände ist einen Ritt durch die Geschichte wert. Bis zum Kriegsende ackerten hier Frauen und Männer für den Endsieg: Die »Deutsche Waffen- Munitions-Anstalt« lieferte Hitlers Truppen bis zum bitteren Ende Nachschub, immer an der Frontlinie entlang. Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt... Nach der Besetzung durch die Alliierten wurde das Werk geschlossen. Heute — Ironie des Schicksals — werden hier die Akten derer verwaltet, die einst die Munition verschossen.

Die »Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Wehrmacht« ging nach Kriegsende nahtlos aus der berühmt- berüchtigten »WaSt« (Wehrmachtsauskunftsstelle) hervor. Hier in Reinickendorf wurden die während des Krieges aus der Reichshauptstadt in Sicherheit gebrachten Dokumente über jeden einzelnen Wehrmachtssoldaten wieder unter einem Dach vereint — deutsche Geschichte in 4.000 Tonnen Aktenmaterial.

Auch siebenundvierzig Jahre nach Kriegsende hat die »Dienststelle« noch alle Hände voll zu tun. Seit dem Mauerfall wurde das Personal von 240 auf 700 aufgestockt. »60.000 Anfragen kommen monatlich aus den neuen Ländern«, erzählt der stellvertretende Dienststellenleiter Peter Gerhardt. Die Wartezeit auf eine Auskunft liegt zwischen sechs und acht Monaten.

Nicht der reaktionäre Nachwuchs militaristischer Eltern melde sich hier auf der Suche nach irgendeinem heldentoten Großvater (jedenfalls nur manchmal); wie so oft im Leben geht es auch bei den Anfragen an die Dienststelle in den meisten Fällen um das liebe Geld.

Denn wer eine Dienstzeitbescheinigung über die Zeit bei der Deutschen Wehrmacht vorweisen kann, bekommt seit 1. Januar 1992 auch in den neuen Ländern eine höhere Rente, von Erträgen aus dem Kriegsopferversorgungsgesetz ganz zu schweigen. Auf handschriftlichen Karteikarten liegen hier zwanzig Millionen Soldatenschicksale in über einhundert Millionen Meldungen, ohne die die deutsche Bürokratie heute noch nicht auskommt.

Mein Großvater (Gott hab ihn selig), befindet sich hier sicher auch irgendwo auf einer der Karteikarten. Nie hat er über den Krieg gesprochen. Irgendwann kam er auf einem Bein aus Rußland zurück und begann ein neues Leben zwischen Trümmern und Wirtschaftswunder. Allein sein ewiges Schweigen drückte immer seinen Schmerz über die Zeit im Krieg aus. Hier ist sein Leben in den Akten festgehalten, sind seine Kriegserlebnisse in Zahlen aufgeschlüsselt. Hier könnte ich erfahren, an welchem Tag ihm an welchem Ort sein Bein abgeschossen wurde, Truppenzugehörigkeit, Lazarettaufenthalte. Und am Ende der Liste würde stehen: Weihnachten 1943, entlassen, kriegsversehrt, dienstunfähig. Oder so ähnlich. Doch auch so manche romantische Begebenheit verbirgt sich in den Akten. »Es gibt viele Mütter, die ihren Kindern erst am Sterbebett gestehen, daß ihr Vater ein deutscher Soldat war«, erzählt Gerhardt. Immer wieder sucht die Dienststelle in den Akten nach Vätern und vermittelt diese an ihre längst erwachsenen Abkömmlinge. Ob die Väter sich an die kurze Liebesnacht fern von der Heimat überhaupt noch erinnern?

Zwölf Millionen Unterlagen mehr

Zwölf Millionen Personalunterlagen sind erst nach dem Mauerfall wieder aufgetaucht. Vierzig Jahre lagen sie unbeachtet im Schloß Dornburg in Sachsen-Anhalt und im Militärarchiv in Potsdam. »Wir waren sicher, daß die Unterlagen im Krieg verschollen waren«, erzählt Gerhardt, sichtlich erfreut, die Angehörigen der Deutschen Wehrmacht jetzt noch vollständiger unter Dach und Fach zu haben.

In den neuen Ländern wartet eine Menge Arbeit. »Die blutigen Endkämpfe um Berlin wurden auf den Seelower Höhen ausgetragen«, sagt Gerhardt, in Kriegsgeschichte berufsmäßig versiert. »Teils sind die sterblichen Überreste der Soldaten nur dreißig Zentimeter überdeckt.« Wenn in Brandenburg die Bauwelle losgehe, schätzt Gerhardt, würden noch massenweise Soldaten ausgegraben werden. Dank ihrer Erkennungsmarke, die jeder ordentliche Soldat immer um den Hals zu tragen hatte, können sie heute noch identifiziert werden.

In solchen Fällen schreibt die Dienststelle die zuständigen Standesämter an und meldet ordnungsgemäß den Tod des Menschen, der seit siebenundvierzig Jahren als verschollen galt. Schließlich werden heute noch Todeserklärungsverfahren geführt, wenn der Tod eines Menschen nicht urkundlich feststeht.

Auf den Gängen hinter den verblichenen Fenstern am Eichborndamm herrscht reges Treiben. Wer mag da gerade wieder auf der Suche nach wessen Schicksal sein? Wessen Leben findet heute wieder seinen Ausdruck in einer Dienstzeitbescheinigung oder einer Todesmeldung? Was empfinden diejenigen, die Anträge stellen, um sich die Zeit bei Hitlers Truppen schriftlich geben zu lassen? Jeder tödliche Schuß, jeder Frontverlauf, jede Bombe, jedes Lazarett läßt sich hier nachvollziehen. Doch der Zugang ist wegen des Datenschutzes so gut wie unmöglich und historische Analyse nicht gefragt. »Wir sind doch kein Archiv«, so Gerhardt. Schließlich hätten sie noch jede Menge humanitäre Aufgaben zu bewältigen. Wie lange noch? »Über das Jahr 2.000 hinaus bestimmt«, ist sich Gerhardt sicher. Doch eines schönen Tages wird sich vielleicht einer die Mühe machen, die Akten nach Reißwolf und archivierbarem Material zu sortieren — vorausgesetzt, die Renten sind gesichert. Jeannette Goddar

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