Am Südstern ist der Himmel nah

■ An einer Kreuzung lassen sich mittlerweile 30 Jahre Antikulturgeschichte nachvollziehen/ Früher wimmelte es von Soldaten, die sonntags in der Garnisonskirche zum Pflichtprogramm antraten

Kreuzberg. Einer Kreuzung, die aus sieben sternförmig aufeinander zulaufenden Straßen besteht, den Namen Südstern zu verleihen, ist eine reichlich prosaische Namensgebung. Der unbestrittene Blickfang dieses Straßenensembles ist die große Kirche, die inmitten der großen Kreuzung thront und, nimmt man den winzigen Kirchhof hinzu, den eigentlichen Platz ausmacht. Um sie herum gruppiert sich das schleichende Blech, wiederholt sich Tag für Tag die Inszenierung eines Stückes namens Verkehrskollaps. Nicht die Erlösung im Himmel wird von den AutofahrerInnen herbeigesehnt, sondern die Etappenerlösung in Form einer grünen Ampel.

Wie fromm die Motive waren, die zur Erbauung des Gotteshauses führten, darüber läßt sich sowieso streiten. Die »Kirche am Südstern« zeugt nämlich, ebenso wie die unweit gelegene »St.-Johannes-Basilika«, weniger von geistlicher als von weltlicher Macht. Beide Kirchen wurden, fast zeitgleich, als Garnisonskirchen gebaut und waren somit nicht den Kirchen, sondern dem preußischen Staat unterstellt. Für den Auftraggeber, Wilhelm II., brachten die Bauten einen mehrfachen Nutzen. Erstens fungierten sie als Baudenkmäler seiner eigenen Größe, zweitens konnte er mit ihnen die Gottesfürchtigkeit seiner Truppen demonstrieren und drittens letzteren selbige einbleuen. Denn natürlich dienten die Gottesdienste nicht zur freiwilligen geistigen Erbauung der Soldaten, sondern gehörten zum Pflichtprogramm. Soldaten gab es in dieser Gegend aufgrund der günstigen geographischen Lage in rauhen Mengen. Neben so interessanten Einrichtungen wie der Ober-Militär-Examinations-Kommission, der Kavallerie- Telegraphen-Schule und der Militärschwimmschule, beherbergte Kreuzberg allein sieben Garderegimenter. Das berühmteste von ihnen, das Garde-Dragoner-Regiment, hatte übrigens sein Quartier im heutigen Finanzamt Kreuzberg am Mehringdamm.

Auch lange nach Auszug der Soldaten blieben die beiden Garnisonskirchen in Staatsbesitz. Nach einer kurzen Zwischennutzung der »Kirche am Südstern« als serbisch-orthodoxe Kirche wurde das Bauwerk ebenso wie ihre katholische Schwester in der Lilienthalstraße in den siebziger Jahren an die Landeskirche übergeben. Da es jedoch der evangelischen Kirche in diesem unchristlichsten aller Berliner Bezirke an Schäfchen mangelt, handelte sie praktisch und verkaufte das gute Stück an eine Glaubensgemeinschaft namens »Christliches Zentrum Berlin e.V.«. Dessen AnhängerInnen versuchen nun, so die Selbstdarstellung, »durch Kreativbeiträge ... die gute Nachricht von Jesus Christus« zu verbreiten. Wer sich beeilt, kann sich bis Freitag noch von einem amerikanischen Gastprediger evangelisieren lassen.

Weniger kreativ, dafür aber um so konservativer, geht es heute in der St.-Johannes-Basilika zu. Deren Pfarrer hat es sich — im Gegensatz zu einigen anderen katholischen Pfarrern Berlins — 1990 nicht nehmen lassen, dem Aufruf des obersten Fötenschützers der Republik, Jonannes Dybka, Folge zu leisten und die Glocken gegen die Abtreibungssünde zu läuten. Ob diese Demonstration kirchlicher Macht die KreuzbergerInnen beeindruckt hat, ist zu bezweifeln. Auf der Straße wurde jedenfalls mit ausdauerndem Töpfeschlagen und Autohupen geantwortet. Farbeier oder gar Kübel erntete die Kirche für das Glockenlärmen jedoch nicht: Schließlich bilden die Wohnstraßen um den Südstern herum eine der »besseren« Gegenden des Bezirks, die zur bevorzugten Heimat von alternativen AkademikerInnen geworden ist.

Geradezu ein Synonym für die Veränderungen in diesem Kiez ist die »Hasenburg« Ecke Körte-/Fichtestraße: Aus der kollektiv betriebenen, süffigen Politkneipe der späten siebziger, frühen achtziger Jahre machte der Wirt 1986 das zweitteuerste Feinschmeckerrestaurant Kreuzbergs. Ein Teil seines Stammpublikums hielt mit: Die einstigen Möchtegern-Revolutionäre hatten sich derweil in gutsituierte Unternehmer und Beamte verwandelt.

Ist in den sorgsam restaurierten Vorderhäusern manches im Laufe der Jahre teurer und gediegener geworden, so blüht in einigen Hinterhöfen nach wie vor die Subkultur. Mittlerweile kann sie auf eine gut dreißigjährige Geschichte in dieser Gegend zurückblicken. Bereits Ende der fünfziger Jahre hatte der Trödelhändler und Maler Kurt Mühlenhaupt in seinem Trödelkeller in der Blücherstraße 11 einen Treffpunkt für wirtschaftswundergeschädigte Künstler und Bohemiens eingerichtet. Der Keller entwickelte sich bald zu einem der wichtigsten Zentren der ersten Welle Kreuzberger Antikultur, bevor er der Stadtsanierung zum Opfer fiel.

Heute befindet sich der (sub)kulturelle Schwerpunkt der Gegend direkt am Südstern, in den vier Hinterhöfen zwischen Gneisenau- und Körtestraße. Da wird Off-Theater gespielt und gelehrt, werden schräge Filme gezeigt, wird der Diva mit dem Adamsapfel gelauscht oder über Safer Sex diskutiert. Egal, welches Angebot angestrebt wird, fast allen Veranstaltungsorten in diesen Höfen ist die Nähe zum Himmel gemeinsam. Vor allem die chronisch Zuspätkommenden wissen ein Lied davon zu singen, was es bedeutet, über steile Treppen fünf Etagen nach oben zu hetzen, um wenigstens die letzten beiden Viertel des Films mitzubekommen. Da haben es die blumen- und gießkannenbewehrten BesucherInnen des Bergmannstraße leichter: Die dortigen vier Friedhöfe sind nicht nur angenehm ruhig und friedlich, sondern natürlich auch ebenerdig. Sonja Schock