Tour d'Europe

■ Rechenkünste

Die Entwürfe, die die selbsternannten, manchmal aber auch die seriösen Prognoseeinrichtungen für den zerfallenen Osten bereithalten, zeigen nicht nur mitunter geradezu groteske Annahmen, sondern meist auch deutlich die dahinterliegenden Interessen. So errechnen die knauserigen Amerikaner seit Monaten relativ niedrige Werte für die Sanierung der ehemaligen Sowjetrepubliken und ihrer Satelliten; dem französischen Außenhandels- und Wirtschaftsministerium fallen zwar für einzelne Länder wesentlich höhere Notwendigkeiten auf — aber grundsätzlich nur dort, wo französischer Einfluß vorhanden ist. Die deutschen Rechner, vordem bekannt durch Schönwetteranalysen, verweisen nun auf die „Unkalkulierbarkeit“ aller Entwicklungen, betonen aber, daß es „sehr sehr teuer“ wird — in der Hoffnung, durch hohe Erfordernis-Werte den knickerigen reichen Partnern wenigstens ein paar Milliarden abzuknapsen, die sich zu den vielen Dutzend deutschen Osthilfe-Milliarden gesellen könnten.

Lohnend ist ein Blick auf die Parameter, die die einzelnen Sanierer verwenden. Die Weltbank, an sich bekannt durch den Hang, Nöte durch Sparappelle und weniger durch Finanzspritzen lösen zu wollen, weist in einer noch unveröffentlichten Studie die von ihr für die nächsten fünf Jahre veranschlagten insgesamt 1.500 Milliarden Dollar als „Grundbedarf“ aus, „wenn Hungersnöte und damit verbunden blutige Auseinandersetzungen und Verteilungskämpfe verhindert werden sollen“, und verweist darauf, daß „die Geberländer, auch wenn sie allerbesten Willen zeigen, nicht mehr als 500 Milliarden“, also ein Drittel des Benötigten, anlegen können. In den berechneten Grundbedarf eingeschlossen sind der Aufbau neuer Infrastrukturen, die Modernisierung der Grundstoff-Ausbeutung sowie der Einstieg in den freien Markt.

Das Szenarium gilt allerdings nur, das betont die Weltbank, wenn ein Grundparameter nicht verändert wird — der „interne soziale und der internationale Friede“ — also wenn es weder Kriege noch Revolutionen gibt. Für den anderen Fall halten die Banker diverse weitere Szenarien bereit: So würde zum Beispiel der Ausbruch eines Krieges zwischen verfeindeten Nachbarstaaten im ehemaligen Sowjetreich keineswegs zwangsweise, wie der normale Menschenverstand annimmt, zu einem weiteren Aufklaffen der Schere zwischen internem Bedürfnis und ausländischer Investitionsbereitschaft führen. Im Gegenteil: Den Geldspezialisten ist klar, daß „gerade eine militärische Auseinandersetzung ebenso wie ein Bürgerkrieg unter Umständen wesentlich mehr Geld fließen lassen würde als eine friedliche Situation“ — der Krieg in Afghanistan habe das reichlich bewiesen.

Derlei Kapitalien sind allerdings kaum geeignet, Hunger und Not abzuhelfen. Doch dieses Argument, so ein Berater des Weltgremiums, lassen die Bankmenschen nicht gelten: Auch unter den 500 Milliarden Dollar, die der Bank von verschiedenen Helferländern als mögliche Investitionen signalisiert wurden, sei „wohl auch nicht alles für Grundbedürfnisse und deren Distribution gedacht“, sondern manches mit dem Hintergedanken lockergemacht, „so etwas wie eine Waffenindustrie aufzubauen oder Militär auszurüsten“. Werner Raith