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Metamorphosen eines Paragraphen

Nach einem Entwurf aus dem Hause Kinkel soll der die letzten 120 Jahre zur Schwulendiskriminierung benutzte Paragraph175 abgeschafft werden. Der Preis der Entkriminalisierung der Schwulen ist jedoch hoch.  ■ VON DOROTHEE WINDEN

Dafür hat die Schwulenbewegung nicht jahrelang gekämpft: Anstatt einer ersatzlosen Streichung des Paragraphen175 will das Bundesjustizministerium einen Ersatzparagraphen einführen. „Ein Erwachsener, der eine Person unter sechzehn Jahren dadurch mißbraucht, daß er unter Ausnutzung ihrer Unreife oder Unerfahrenheit sexuelle Handlungen an ihr vornimmt, oder von ihr an sich vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, heißt es in dem Entwurf mit dem Titel „Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen“. Der Titel ist überaus geschickt gewählt, denn die Öffentlichkeit ist in den vergangenen Jahren durch die Frauenbewegung für das Thema sexueller Mißbrauch sensibilisiert worden, und Gegenmaßnahmen können mit breiter Zustimmung rechnen. Die Absicht, Jugendliche vor sexuellem Mißbrauch zu schützen, ist — an sich — zu begrüßen. Die Frage ist nur, ob dieser Paragraph das geeignete Mittel dazu ist. Tatsächlich werden damit — sollte der Entwurf Gesetz werden — einvernehmliche sexuelle Kontakte einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt.

Möglich wurde die Abschaffung des Paragraphen175 durch die neue Situation infolge der Wiedervereinigung. Da in der ehemaligen DDR das Sonderstrafrecht für Schwule 1989 abgeschafft worden war, kam es nicht in Frage, sexuelle Handlungen zwischen Männern über 18 mit Jungen unter 18 dort erneut unter Strafe zu stellen.

Mit der Neuregelung soll nun ein einheitliches „Schutzalter“ von sechzehn Jahren eingeführt werden, für beide Geschlechter, ganz gleich ob hetero- oder homosexuell. Damit wird zwar die Diskriminierung schwuler Männer beendet, dies aber um den Preis einer Heraufsetzung des „Schutzalters“ für Heterosexuelle und Lesben von derzeit 14 auf sechzehn Jahre. Zum ersten Mal könnten damit in den Altländern der Bundesrepublik auch sexuelle Kontakte von erwachsenen Frauen mit männlichen und weiblichen Jugendlichen unter sechzehn Jahren bestraft werden.

In der ehemaligen DDR gab es einen vergleichbaren Paragraphen, der Geschlechtsverkehr und geschlechtsverkehrähnliche Handlungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen unter sechzehn Jahren bestrafte, wenn dies „unter Ausnutzung der moralischen Unreife, durch Geschenke, Versprechen von Vorteilen...“ geschieht. Laut Einigungsvertrag gilt dieser Paragraph149 in den neuen Bundesländern für eine Übergangszeit von zwei Jahren.

Justizminister Kinkel hat bei der Neuregelung des Paragraphen175 auf diesen Paragraphen des DDR-Strafgesetzbuches zurückgegriffen. Die neue „Jugendschutzvorschrift“ ist jedoch weiter gefaßt: Sie betrifft sexuelle Handlungen allgemein und nicht ausschließlich Geschlechtsverkehr. Im Gegensatz zum Paragraphen149, der in der Ex-DDR ein Offizialdelikt war, ist der neue Paragraph — ausgenommen bei öffentlichem Interesse — als Antragsdelikt konzipiert.

Da der Paragraph175 „rechtshistorisch belastet“ sei, soll die Nachfolgeregelung den — ohnehin antiquierten — Paragraphen182 (Verführung von Mädchen unter sechzehn Jahren) ersetzen.

Die Sexualität der Jugend im Visier

Nicht nur die Lesben- und Schwulenverbände, auch das Bündnis 90/Grüne und Teile der SPD haben den Referentenentwurf verrissen. Die jugendpolitische Sprecherin der SPD, Hanna Wolf, bezeichnete die Pläne als „einschneidenden Eingriff in die Sexualität junger Menschen“. Sie begrüße selbstverständlich, daß die Bundesregierung endlich die einseitige strafrechtliche Diskriminierung homosexueller Männer abschaffen wolle, der Weg sei aber „höchst problematisch“: Die teilweise Entkriminalisierung bisher strafbarer männlicher homosexueller Handlungen solle mit einer Neukriminalisierung von heterosexuellen und lesbischen Beziehungen einhergehen. Sie kritisierte, daß die Begründung des Gesetzentwurfs keinerlei Hinweise auf kriminologische oder sexualwissenschaftliche Erkenntnisse enthalte, die eine derartige Neukriminalisierung sexueller Beziehungen Jugendlicher rechtfertige.

Christina Schenk, Bundestagsabgeordnete vom Bündnis 90/Grüne hält die Absicht der Bundesregierung, das Schutzalter für heterosexuelle und lesbische sexuelle Kontakte auf sechzehn Jahre heraufzusetzen für „nutzlos und gefährlich“. Auf ihre Kleine Anfrage im Bundestag, welche Nachteile bisher durch das Fehlen einer höheren Schutzvorschrift entstanden seien, konnte die Bundesregierung keine konkreten Angaben machen.

Christina Schenks Kritik richtet sich vor allem gegen die vagen Begriffe „Unreife“ und „Unerfahrenheit“ im Referentenentwurf. Auf die Anfrage, was darunter zu verstehen sei, antwortete ihr die Bundesregierung, „Unreife“ sei „die mangelnde Fähigkeit des noch nicht sechzehn Jahre alten Opfers, (...) Bedeutung und Tragweite sexueller Handlungen aufgrund seiner allgemeinen sittlichen und geistigen Entwicklung zu erfassen und sein Handeln danach einzurichten“.

Christina Schenk warnt davor, daß Jugendliche vor Gericht — ähnlich wie Frauen bei Vergewaltigungsprozessen — „hochnotpeinliche Befragungen über ihr Intimleben“ über sich ergehen lassen müßten. Dies würde die Jugendlichen erst recht schädigen. Sie befürchtet, daß der neue Paragraph in der Praxis vor allem lesbische und schwule Jugendliche trifft. Eltern, denen die sexuellen Kontakte ihrer Kinder nicht paßten, könnten sich des Paragraphen bedienen, um diese zu unterbinden. Dies befürchtet auch Jutta Oesterle-Schwerin, ehemals Bundestagsabgeordnete der Grünen und jetzt Sprecherin des Lesbenrings, des Dachverbandes von 50 Lesbengruppen. Der Lesbenring sieht die Gefahr, daß junge Lesben in der Lebensphase ihres Coming Out zusätzlich belastet werden, wenn erste sexuelle Erfahrungen von strafrechtlicher Verfolgung bedroht sind. Der Prozeß der Selbstfindung werde erschwert, wenn Mädchen fürchten müßten, daß ihre über 18 Jahre alte Freundin von den Eltern angezeigt wird. Gerade in den Familien stoßen junge Lesben auf die größten Widerstände gegen ihr Lesbischsein. Wie die Studie Stichprobe Lesben von Reinberg/Roßbach aus dem Jahr 1985 belegt, werden 73Prozent der Lesben von ihren Familien diskriminiert. Die Mittel, mit denen versucht wird, sie von der lesbischen Lebensweise abzubringen, reichen von moralischem bis zu materiellem Druck oder dem Abbruch der familiären Beziehungen. Eine strafrechtliche Verfolgung lesbischer sexueller Handlungen würde diese gesellschaftliche Diskriminierung noch verstärken.

Weder Opfer noch Täterinnen

Mit dem neuen Paragraph182 solle ein Straftatbestand in einem Bereich geschaffen werden, in dem es „weder Opfer noch Täterinnen gibt“, heißt es in der Stellungnahme des Lesbenrings gegenüber dem Bundesjustizministerium. Der Lesbenring beruft sich auf Angaben der Bundesregierung, wonach der Anteil von Frauen, die wegen Paragraph176, sexuellen Mißbrauchs von Kindern, verurteilt wurden, 1989 bei 0,5Prozent lag. 1990 waren es 1,1Prozent, das heißt, von 1.566 Verurteilten waren 18 Frauen. Darüber, wieviele der Frauen möglicherweise wegen lesbischer sexueller Handlungen verurteilt wurden, gibt es keinerlei statistische Angaben. Der Lesbenring lehnt es ab, daß lesbische sexuelle Handlungen nur deshalb strafrechtlich verfolgt werden sollen, um die Diskriminierung von Schwulen zu beenden.

„Wenn man wirklich sexuellen Mißbrauch verhindern will, wie Kinkel vorgibt, müßte man bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ansetzen“, meint Christina Schenk. Konkrete Vorschläge dafür macht sie in ihrem Gesetzentwurf, der zum einen die Streichung der Paragraphen175, 182 StGB und 149 StGB-DDR zum Ziel hat und zum anderen eine Verschärfung der Paragraphen177 (Vergewaltigung) und 178 (sexuelle Nötigung) fordert. Christina Schenk greift damit eine langjährige Forderung der Frauenbewegung auf, wonach der Anwendungsbereich dieser Paragraphen erweitert werden müsse. Eine sexuelle Handlung soll dann als Vergewaltigung gelten, wenn sie gegen den Willen der betroffenen Person ausgeübt wird. Der Tatbestand der Verwaltigung soll auf anale, orale oder vaginale Penetration ausgeweitet werden. Außerdem soll auch Vergewaltigung in der Ehe strafbar sein.

Dieser Gesetzentwurf wird im Bundestag erst behandelt, wenn auch der Entwurf zur Abschaffung des Paragraphen175 eingebracht wird. Zuvor muß der Referentenentwurf jedoch noch im Kabinett abgestimmt werden. Mit größeren Änderungen ist nicht zu rechnen, da die FDP ihrem Koalitionspartner mit dem einheitlichen Schutzalter von sechzehn Jahren bereits entgegengekommen ist. „Das bedeutet jedoch kein Abrücken vom Endziel eines Schutzalters von 14 Jahren“, verteidigt der rechtspolitische Sprecher der FDP, Jörg van Essen, den Kompromiß. „Uns ist eine machbare Reform mit einem Schutzalter von sechzehn Jahren lieber als gar keine Reform.“ Und er betont, daß Liebesverhältnisse nicht erfaßt werden sollen. Intention des Gesetzes sei, Jugendliche vor „Sexkonsumenten“ zu schützen.

Schutz der Jugend statt Strafe

Ob eine Erhöhung des Schutzalters auf sechzehn Jahre der Realität angemessen ist — diese Frage werden ExpertInnen bei einer gemeinsamen Anhörung des Bundestagsausschusses für Frauen und Jugend mit dem Rechtsausschuß Anfang März erörtern. Statistisch gesehen machen Jugendliche heute sehr viel früher ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Neueste Untersuchungen der Abteilung für Sexualforschung an der Uni-Klinik Eppendorf in Hamburg haben ergeben, daß in Westdeutschland 41Prozent der Jungen und 37Prozent der Mädchen bis zum Alter von sechzehn Jahren erstmals Geschlechtsverkehr hatten. Bis zum Alter von 15 Jahren sind es 19Prozent der Jungen und sechzehnProzent der Mädchen.

Nach Ansicht der Hamburger Sexualforscherin Margret Hauch „sind die Altersgrenzen beliebig“. Ausschlaggebend sei der individuelle Entwicklungsstand des Jugendlichen. Sie plädiert dafür, das Schutzalter so niedrig wie möglich anzusetzen. Dies müsse aber durch außergesetzliche Schutzmaßnahmen wie Aufklärung, Beratungsangebote und Krisenintervention bei sexuellem Mißbrauch flankiert werden. Die Schutzfunktion strafrechtlicher Bestimmungen ist für sie Fiktion. Einen Abschreckungseffekt habe — wie die Praxis zeigt — ein solcher Paragraph in der Regel nicht. Sie plädiert daher für „echte Schutzmaßnahmen statt harscher Strafandrohungen“.

Der Blick ins europäische Ausland zeigt, daß die Schutzaltersgrenzen stark variieren. So liegt das einheitliche „Schutzalter“ für Hetero- und Homosexuelle in Holland und Spanien bei 12 Jahren, in Italien bei 14, in Frankreich und Schweden bei 15, in Norwegen und Portugal bei sechzehn. Unterschiedliche „Schutzalter“ für Hetero- und Homosexuelle gibt es unter anderem noch in Österreich und Großbritannien.

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