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Wahlen im Pandschab im Zeichen der Angst

Erstmals seit fast fünf Jahren wird heute in dem indischen Bundesstaat gewählt/ Boykottaufrufe radikaler Sikh-Parteien und Morddrohungen des separatistischen Untergrunds/ Kongreß-Partei braucht Abgeordnete für das Unterhaus in Delhi  ■ Aus Amritsar Bernard Imhasly

Nach fast fünf Jahren soll im nordindischen Staat Pandschab heute erstmals wieder gewählt werden. Trotz des Boykottaufrufs radikaler Sikh- Parteien und Terroraktionen des separatistischen Untergrunds scheint die Regierung entschlossen, die Wahl von 13 Vertretern und des Landesparlaments zum indischen Unterhaus dieses Mal durchzusetzen. Um Ausschreitungen zu unterbinden, sind im Pandschab gegenwärtig 150.000 Soldaten stationiert. 1991 war die Abstimmung nur wenige Stunden vor Öffnung der Wahllokale gestoppt worden, nachdem 23 Kandidaten ermordet worden waren.

Angesichts der Einschüchterung der WählerInnen — in den vergangenen Wochen wurden bereits eine Reihe von Menschen, Wahlkampfhelfer und Abstimmungspersonal, erschossen — wird mit einer geringen Wahlbeteiligung gerechnet: wie viele Leute schließlich ihre Stimme abgeben werden, hängt entscheidend von der Fähigkeit der Kandidaten ab, der Bevölkerung durch ihren persönlichen Einsatz die Angst zu nehmen.

Das Problem mit seinem Polizeischutz hat Santokh Singh Chaudhuri inzwischen gelöst. Der Kandidat der Kongreß-Partei für den Sitz von Phillaur wußte nicht, wie er die 30 Leute unterbringen sollte, welche die Regierung ihm —wie allen Kandidaten— als Schutz zugewiesen hatte. Er wohnt in einer Wohnung in der Stadt Jalandhar, 30 Kilometer von Phillaur entfernt, und allein die Verpflegung und tägliche Reise in den Wahlkreis schufen logistische Probleme. Schließlich fand er vor zehn Tagen die Lösung: Er läßt sich jeden Abend mit seinen 30 Polizisten im Gefängnis der Kleinstadt einschließen und hat so vor den Terroristen wie vor seinen Beschützern Ruhe.

Im Gegensatz zu Santokh Singh kennt Bimla Dang dieses Problem nicht. Auch sie hat, als Kandidatin der Kommunistischen Partei in Amritsar (West), Polizeischutz erhalten. Aber die 67jährige lebt bereits seit acht Jahren mit ihrem Mann, dem Parteiveteranen Satyapal Dang, im einfachen Büro der „Istri Sabha“. Diese von ihnen gegründete Organisation hilft Witwen und Kindern von Opfern des Terrorismus. „Die Gefahr von Anschlägen und die Sicherheitserfordernisse erlaubten uns in unserer Wohnung kein normales Leben“, sagt Bimla Dang. „Zuerst habe ich noch zu Hause gekocht, aber dann habe ich auch das aufgegeben.“

Von allen politischen Parteien haben die Kommunisten im Konflikt zwischen den separatistischen Sikhs— die einen unabhängigen Staat Khalistan anstreben — und dem Staat die meisten Opfer zu beklagen. „Über 200 unserer Kader sind in den letzten zehn Jahren von Khalistanis erschossen worden. Wir sind zwar immer für eine größere Autonomie des Pandschab eingetreten. Aber dies muß innerhalb der indischen Verfassung geschehen. Wir sind gegen einen Sikh-Staat und kämpfen für das friedliche Zusammenleben zwischen den religiösen Gemeinschaften“, sagt die resolute kleine Frau, während sie sich — unter einem Lenin-Bild sitzend — für den Wahlkampftag bereitmacht.

Obwohl die Kommunisten hier noch nie gewonnen haben, werden Frau Dang diesmal gute Chancen eingeräumt, nicht zuletzt wegen der Tätigkeit der „Istri Sabha“, denn, so meint Bimla Dang, „es gibt im Pandschab bald keine Familie mehr, die nicht vom Terrorismus getroffen wurde.“ Aber zu ihrem Wahlkreis gehören auch eine Reihe von Dörfern hin zur Grenze von Pakistan, die hier nur 30 Kilometer entfernt ist. Da mit guten Gründen vermutet wird, daß der Khalistan-Untergrund in Pakistan angesiedelt ist, ist dessen Tätigkeit in diesem Grenzbezirk besonders virulent. Dies wird etwa im großen Dorf Kotekhalsa sichtbar, das, am westlichen Stadtrand gelegen, heute praktisch ins Weichbild der Stadt Amritsar hineingewachsen ist. Statt Wahlpostern sind dort bereits Plakate aufgetaucht, welche die Bevölkerung warnen, ihre Stimmen abzugeben. „Wer wählt, muß auf seine gerechte Strafe gefaßt sein“, endet der Text, eine euphemistische Todesdrohung.

Auch die radikalen Sikh-Fraktionen der Akali-Dal-Partei haben zum Wahlboykott aufgerufen. Der lokale Vertreter der Manjit-Gruppe in Kotekhalsa, „Major“ Singh Sarkaria, ist überzeugt, daß nur wenige der 30.000 EinwohnerInnen an die Urnen gehen werden.

Zum Gesprächstreffpunkt — einer zwischen wiederkäuenden Kühen gesetzten Pritsche mitten im Dorf — erscheint der selbsternannte Major auf seine Weise: zu Pferd, geleitet von einem langbärtigen Mann, dessen Säbelgurt einen schwarzen Rock zusammenrafft, unter dem nur die bloßen Füße sichtbar werden. Das alttestamentarisch anmutende Bild ist allerdings nicht Ausdruck für den strengen Sikhismus, den der Akali Dal unter der Fuchtel der Terrororganisationen zu lernen begonnen hat. Die Regenfälle haben die Dorfstraßen in einen Schlammtempel verwandelt, und dafür ist das Pferd immer noch das sauberste Transportmittel. Sarkaria kommt soeben vom Polizeiposten, wo der Bezirkschef der Manjit-Fraktion am Morgen in Gewahrsam genommen wurde. Der selbst für Indien seltsame Haftgrund: Agitation für den Boykotts der Wahlen am 19.Februar.

Stimmbeteiligung als eigentliches Wahlkampfthema

Sarkaria gibt sich allerdings gelassen. Er ist davon überzeugt, daß praktisch niemand an die Urnen gehen wird. Die minimale Wahlbeteiligung, meint er, würde den großen Parteien beweisen, daß die Sikhs die Wahlfarce durchschauten, die doch nur den Zweck habe, in Chandigarh eine Delhi-hörige Regierung zu installieren. Überdies braucht die Kongreß-Partei auch dringend Pandschab-Abgeordnete für das Unterhaus in Delhi, da der Regierung von Narasimha Rao einige Delegierte an der Mehrheit im Parlament fehlen.

Auch für Santokh Singh Chaudhuri, der — nach einer ruhigen Nacht in der Zelle — im Städtchen Phillaur von Haus zu Haus geht und die Leute um ihre Stimme bittet, ist das eigentliche Wahlthema die Stimmbeteiligung. Dies kommt ihm auch gelegen, denn als Kongreß-Vertreter steht er ohnehin unter dem Druck der Vorwürfe an die Partei, der die Sikhs den Angriff auf den Goldenen Tempel im Jahr 1984 nicht verziehen haben.

Wie überall in Indien lassen sich die Politiker aber nur selten mit ihren Parteien gleichsetzen. Phillaur ist ein für Kastenlose reservierter Wahlkreis, und Singh, ein prominenter Kastenloser, präsentiert sich den vielen armen WählerInnen denn auch als deren Interessenvertreter in Chandigarh. Wie sonstwo in Indien sieht er seine primäre Aufgabe nicht etwa darin, über Gesetzesvorlagen zu debattieren. Es ist vielmehr seine Aufgabe, den BewohnerInnen seines Kreises zu helfen, wenn sie sich mit einem persönlichen Anliegen in der Maschinerie der staatlichen Bürokratie in Delhi, Chandigarh oder selbst dem Distrikthauptort Jalandhar nicht mehr zurechtfinden. Singh argumentiert deshalb, daß auch eine Stimmbeteiligung von zehn Prozent eine gewisse Legitimität habe. Es gehe, sagt er sinngemäß, nicht so sehr um die demokratische Wahl zwischen Parteiprogrammen, sondern darum, daß der hilflose Bauer und Krämer jemanden habe, der dafür sorgt, die verstopften Kanäle der staatlichen Institutionen zu öffnen.

Den Grund für die zu erwartende geringe Wahlbeteiligung sieht Santokh Singh nicht so sehr in einem Protest gegen die Kongreßregierung in Delhi, sondern in der Angst vor Anschlägen. So ist sein Gang durch die Stadt gewissermaßen auch schon sein Wahlprogramm: Die Leute sollen sich an seinem zweifellos mutigen Verhalten orientieren, denn erst die Angst der Mehrheit begründe ja die Macht der terroristischen Minderheit. Ein Freund und Wahlhelfer Singhs, der Arzt Harcharan Singh, zweifelt allerdings, daß die eingeschüchterten WählerInnen diesen Vergleich akzeptieren. „Santokh hat 30 Polizisten um sich herum — und wie viele wird der Wähler haben, wenn er nächsten Mittwoch allein das Stimmlokal betritt?“ Was den Freund aber noch mehr beschäftigt, ist die Zeit nach den Wahlen, wenn die überall postierten Patrouillen abgezogen sein werden. Er denkt vor allem an das schwarze Farbtröpfchen, das in Indien jedem Wähler nach der Stimmabgabe auf die Nagelkuppe seines rechten Zeigefingers geträufelt wird, damit er nicht noch ein zweites Mal unter einem anderen Namen seine Stimme abgibt. Der Tintenfleck bleibt auch bei intensivem Waschen für zwei Wochen gut sichtbar. Im ganzen Pandschab geht bereits ein Gerücht um: Die Khalistanis werden jedem die Hand abschlagen, der mit dem Tupfer auf dem Fingernagel herumläuft.

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