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Video-Wallraffs

■ Komsomolskaya Pravda Video

Nein, sagt Mikhail Degtyar, der Chefredakteur des unabhängigen russischen Video- Magazins „Komsomolskaya Pravda Video“, Vorbilder gebe es für ihre Arbeit nicht. „Wir müssen wohl alles ganz neu erfinden.“ Was dabei herauskommt, überzeugt durch seinen radikalen Blick auf die menschlichen Schicksale in der ehemaligen Sowjetunion.

Die Videopioniere aus Moskau, die eine Auswahl ihrer Filme — in der Regel Kurzreportagen von zehn bis 15 Minuten Dauer — am Dienstag auf dem Videofest vorstellten, führten das Publikum in ehemalige stalinistische Straflager, in einen heutigen Frauenknast, einen Schlachthof und zu den von Stalin vertriebenen Krimtataren. Sie zeigen ein Dorf, dessen Brunnen so von einer chemischen Fabrik verseucht sind, daß ein brennendes Zündholz das „Wasser“ in Flammen setzt. Ein Bauer kippt den Inhalt eines Eimers in den Tank seines Autos und knattert davon.

Die Bilder schockieren. Wie die insgesamt 800 Kinder der im Frauenknast Inhaftierten aufwachsen müssen, wäre überall auf der Welt ein Skandal. Das Team von „Konsomolskaya Pravda Video“ mußte sich mit Tricks Zugang hinter die Gefängnismauern verschaffen.

Ihre Videos wurden früher per Post verschickt, an Video-Clubs im ganzen Land, die die Filme gegen Eintritt zeigten. Die einzige Werbung waren Hinweise in der Komsomolskaya Pravda — das allerdings ist die meistverbreitete Zeitung der Ex- UdSSR. Chefredakteur Mikhail Degtyar schätzt, daß einzelne Videos von 80 Millionen Menschen gesehen wurden. Der Putsch vom August hat die alte Garde im staatlichen Fernsehen weggefegt: Ab März wird man die Produktionen der russischen Video-Wallraffs zur besten Zeit im Fernsehen sehen — mit der entsprechenden Satellitenschüssel sogar in Berlin, dann aber ohne Untertitel. Stefan Schaaf

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