: Wissen, was sie tun
■ „Seriat“: eine Studie türkischen Alltags in Europa
Getrieben von einer absonderlichen Portion guten Willens haben Urs Graf und Marlies Graf Dätwyler einen Film über eine Familie gedreht, der nichts fremder sein kann als das öffentliche Auge: die Tütüncüs im deutschschweizerischen Olten. Die Tütüncüs leben nach dem Seriat, dem islamischen Gesetz — so gut es geht. Es gibt keine Bilder und keine Musik in dem Haus, das sie Moschee nennen, mit Akzent auf der ersten Silbe.
Die Befürchtung, die Widersprüche einer zwischen Orient und Okzident schwebenden Lebenskultur würden sich in der Nahsicht als unhaltbare Doppelmoral gegen die Betrachteten wenden, erweist sich in der ersten Stunde des Films als falsch: düster, verengt, fleißig und ängstlich präsentiert sich die Familie in ihren Interessen als homogen. Die Interviews bestreitet allein Idris, das Familienoberhaupt. Seine Frau Resmye versteckt sich unter einem weit nach vorn gezogenen Kopftuch und schweigt. Gegen diesen Umstand haben Graf und Graf Dätwyler ein Mittel gefunden: Sie übermitteln aus dem Off Äußerungen und Anekdoten, die mit der Entstehungsgeschichte des Films zu tun haben und das Verhältnis der Familie zur Öffentlichkeit definieren.
Aber dieses Verhältnis ändert sich. Die Söhne und Töchter beginnen sich zu äußern. Man sieht die Frauen im Gespräch. Man begreift den Jahreszyklus, erkennt den Tagesrhythmus und versteht, daß das Licht der „muselmanischenä“ (wie sie auf Schweizerdeutsch sagen) Wahrheit auch eine Nachtseite hat: die ältesten Söhne in einer Diskothek. Die Jüngste Hatice, trägt mit neun „noch“ kein Kopftuch; aber dafür erste deutliche Züge einer Willensbildung im Gesicht.
Das Filmen — ein Projekt von mehreren Jahren — greift in das Leben der Familie ein. Der überkodierte Sinnzusammenhang der moslemischen Lebenspraxis erscheint zunehmend als Ideal, das Kompromisse in Kauf nehmen muß. Der Film ist offenbar das Vehikel der Familie, um ihrer türkischen Umwelt liebevoll beizubringen, daß ein gewisses Eingeständnis dieser Misere es leichter machen würde, mit ihr zu leben.
Der Film — deklariert als „zwei Filme in einem Film: ein männlicher Blick auf die Welt der Männer, ein weiblicher Blick auf die Welt der Frauen — ist tatsächlich ein geschlossenes Projekt mit vielen möglichen Ausgängen. Das Kamera- Auge dieses Films ist der Dokumentarist Hans Stürm, der sich vor einigen Jahren einer Bauernfamilie in „Gossliwil“ gewidmet hatte; die Entwicklung von nahezu totaler Stummheit der Protagonisten bis zur Verzahnung ihres Alltags mit dem Projekt war damals ähnlich verlaufen. Es gibt elegantere Dokumentarfilme als Seriat und ergiebigere Quellen als den moslemischen Alltag: aber es gibt wohl kein besseres Mittel gegen Angst und Neugier, als die Schweizerische Gründlichkeit des Filmkollektivs Zürich. Sie fragen sich mit heiligem Ernst, was sie nicht wissen. Aber sie wissen, was sie tun. uez
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