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Der Stuhl ist eine Glaubenssache

■ Unsere Urahnen saßen auf Baumstümpfen und Steinen. Heute gehören Balancemöbel und Stahlrohrmodelle zu den Rennern unter den Stühlen. SEVERIN WEILAND hat sich bei zwei Berliner Designern umgesehen.

Unsere Urahnen saßen auf Baumstümpfen und Steinen. Heute gehören Balancemöbel und Stahlrohrmodelle zu den Rennern unter den Stühlen. SEVERIN WEILAND hat sich bei zwei Berliner Designern umgesehen.

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tühle sind zum Sitzen da. Punktum. Ein weitverbreitetes Fehlurteil. Sie sind mehr als nur die Unterlage für unser Sitzfleisch. Sie sind Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses, sozusagen materialisierte Gesellschaftspolitik. Schon das Kleinkind wird von entnervten Eltern in den Babystuhl gedrückt, angeschnallt und zur Unbeweglichkeit verdammt. In der Schule folgt dann die zweite Lektion: Der Stuhl macht aus dem bis dahin spielfreudigen Kind einen Pennäler. „Sitz gefälligst still“ — das wird zum Leitspruch für jeden Zappelphilipp. So markiert der Stuhl den Beginn einer Ära, wird der Stuhl Ausdruck von Herrschaft und Macht: in der Schule, der Universitätsaula, im Büro, im Gerichtssaal, als Sessel des Kanzlers oder Thron der britischen Königin — Stühle varieren in Form und Gestalt, je nachdem, welche Funktion sie erfüllen sollen. Und in manchen Gesellschaften ist der Stuhl auch Exekutionsinstrument an demjenigen, der es gewagt hat, die Regeln der bestuhlten Gesellschaft zu mißachten: der elektrische Stuhl.

Eines haben alle Stühle gemeinsam: Sie zwingen uns, still zu halten, die Bewegungen auf ein Minimum zu beschränken. Eine Lebensform, die in den modernen Industriegesellschaften den Alltag geprägt hat. Wo das Zeitalter des Computers und der Dienstleistungen um sich greift, wird der Mensch in den Stuhl gedrückt. Tag für Tag sitzen Millionen in Büros, stundenlang. Ausgleich schafft, nach Feierabend, die Freizeitkultur, mit Jogging, Stretchübungen oder dem Gang zum Krankengymnasten, wo der geschundene Rücken kuriert werden soll.

Kein Wunder also, daß die Industrie versucht, die fehlende Bewegung in die Stühle zu projezieren. Ein Ergebnis dieser Forschungen sind die zahllosen ultramodernen Bürosessel. Sie sind mit soviel raffinierten Hebeln ausgestattet, daß seitenlange Bedienungsanleitungen gleich sicherheitshalber mitgeliefert werden. Verstellbar ist an ihnen fast alles — von der Sitzfläche bis zur Rückenlehne. Im anonymen Massenbüro haben sie nur einen Nachteil: Kaum jemand — außer demjenigen, der ihn als erster „ersessen“ hat — wird sich die Mühe machen, die von Ergonomen und Designern ausgetüftelten Bewegungsabläufe noch einmal auszuprobieren: Der Büromensch ist froh, wenn die optimale Sitzgelegenheit gefunden wurde.

Sitzen nach der „Deutschen Norm“

Besonders beliebt sind seit einigen Jahren auch die „Balancemöbel“, ursprünglich in Norwegen entwickelt. Wie auf Kufen, die Knie auf Polsterungen abgestützt, schaukelt der Mensch vor und zurück. Inzwischen ist um diese Stühle ein regelrechter Glaubenskrieg ausgebrochen. Im 'Deutschen Ärzteblatt‘ vom Januar 1991 entfachte ein gewisser Karl- Hans Berquet einen Sturm der Entrüstung, als er erklärte, daß die alternativen Sitzmöbel als Trainingsgeräte in Freizeiträume gehörten, nicht aber „in Dauerbetriebe und besonders nicht an Arbeitsplätze“. Schädigung durch schlaffe Haltung, Überdehnung der Muskulatur — das Mitglied des „Arbeitskreises Sitzmöbel der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie“ ließ kein gutes Haar an ihnen und plädierte statt dessen für konventionelles Sitzen nach der „Deutschen Norm“. Ob es dabei um bloße Rechthaberei oder um den Kampf um Marktanteile zwischen konventionellen und alternativen Sitzherstellern ging, bleibt bis heute ein Geheimnis. Auf alle Fälle ist der Stuhl zur Glaubenssache geworden. Für Michael Zöllner vom Berliner Stuhlladen „sitz.art“ kann dieser Typus Stuhl „ein Ausdruck einer geänderten Haltung sein“. Wer sich einen Balancestuhl anschaffe, habe sich schon vor dem Kauf etwas gedacht und wolle weg von der gewohnten Sitzhaltung. Körperliche und geistige Flexiblität — das ist ein Stichwort, das die Befürworter der Balancestühle in die Diskussion werfen. Ob es stimmt, bleibt letzten Endes wohl oder übel dem Geschmack des Kunden überlassen. Genauso wie die Frage nach dem Design.

Hierarchie des Sitzens findet im Preis statt

Die achtziger Jahre haben den Stuhl wieder aufgewertet — dank des Zeitgeistes. Chrom- und stahlglänzend wurden vor allem Kneipen eingerichtet. Die Tradition der Stahlrohrmöbel der Bauhaus-Designer, die in den zwanziger Jahren für Furore sorgten, wurde in immer neuen Variationen fortgesetzt. Etwa von Frantek P. Riedel aus Berlin, der sich auf Stahlmöbel spezialisiert hat. „Weil sich der Mensch bewegt, müssen sich Stühle und Sessel oder Sofas auch bewegen können“, faßt er seine Philosophie zusammen. Daher sind die Rückenlehnen seiner Objekte im 90-Grad-Winkel verstellbar. Derzeit arbeitet er an einem neuen Modell: ein Stuhl, der aus der Senkrechten mit ein paar Handgriffen in eine Liegefläche verwandelt wird. Hauptabnehmer seiner zum Teil aus Edelstahl hergestellten Stühle und Sessel sind überwiegend Architekten. „Vielleicht“, so resümiert er, „weil Stahlmöbel in ihrem Aussehen eine gewisse Statik haben und dem Beruf des Architekten sehr nahe kommt“.

Der Stuhl aber erfüllt nicht nur technische Funktionen oder das Bedürfnis nach einer möglichst bequemen Sitzhaltung. Er wird, im Zeitalter des Überflusses, auch zum Fetisch. Aus der Massenware der Einrichtungskultur soll der Stuhl herausragen, einen gewissen Hauch von Exklusivität ausstrahlen. „Die Hierarchie des Sitzens findet heute vor allem im Preis statt“, meint Zöllner von „sitz.art“.

Während Wohngemeinschaften und aufgeklärte Pädagogen vorzugsweise in großen Einrichtungshäusern einkaufen, sind andere darüber schon längst hinweg. Wer etwa, nach dem erfolgreichen Marsch durch die Institutionen, das nötige Kleingeld besitzt, kann auf Teureres zurückgreifen. Etwa die Stühle eines David Delthoney. Der heute 45 Jahre alte US-Amerikaner, dessen Atelier im einst aufmüpfigen Kreuzberg liegt, stellt seit 1979 „Möbelskulpturen“ her, wie er seine Stühle und Tische nennt. „Eine Synthese aus Form und Funktion“ — so lautet der Grundsatz, an denen Delthony seine Möbel mißt. Die hölzernen Ungetüme, die in Form und Gestalt an Rückenwirbel oder Walflossen erinnern, wiegen bis zu hundert Kilogramm. Für manches Modell braucht Delthoney bis zu zwei Monate. Seine Stückzahl ist daher auch begrenzt, zwölf bis fünfzehn im Jahr. Der Preis, etwa für den „Königsitz IV“ — rund 10.000 D-Mark. Hauptabnehmer sind in der Hauptsache Geschäftsleute. Seine Stühle, die trotz ihres ungewöhnlichen Erscheinung höchst bequem und streng ergonomisch geformt sind, stehen mittlerweile in vielen Ländern: Schweden, der Schweiz, den USA, Japan und Südafrika.

Breitere Stühle sind zunehmend gefragt

Nicht jeder Stuhl ist einfach ein Stuhl: In der Öffentlichkeit repräsentieren sie Macht oder Ohnmacht, in der Arbeitswelt die Hierarchie zwischen Oben und Unten. Zöllner erzählt von einem Kunden, der darauf bestand, daß sein Chef-Sessel auf jeden Fall eine höhere Rückenlehne haben müsse als der seiner Sekretärin. Bei schlechteren und billigeren Stühlen, so Zöllner, „gehen die Leute auch schneller zur Kur“. In den letzten Jahren ist der Abstand, den eine Arbeitsfläche vom Boden trennt, verringert worden. Derzeit liegt die EG-Norm bei 72 Zentimetern. Ein völliger Widerspruch zu der Tatsache, daß die Menschen immer größer, die Möbel hingegen kleiner werden.

Zöllner glaubt an eine baldige Umkehr dieses ergonomischen Widersinns: „Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem sich die Volkswirtschaft umstellt, weil die Leute die Kuren nicht mehr bezahlen können.“ Neben den schrumpfenden Möbeln hat der Verkäufer noch eine Tendenz ausgemacht: Breitere Stühle sind zunehmend gefragt. Das sei ein Symptom dafür, „daß die Gesellschaft mehr und mehr zur Statik neigt und weniger zur Bewegung“.

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