Mörder Haarmann bewegt Gefühle posthum

Hitzige Diskussion um den Ankauf einer Plastik des Bildhauers Hrdlicka von Fritz Haarmann, Massenmörder aus den 20er Jahren/ Verwandte der Opfer protestieren gegen die „Denk-Skulptur“/ Theodor Lessing als vertriebener Zeitzeuge  ■ Aus Hannover Heide Platen

Der Massenmörder Fritz Haarmann, hingerichtet 1925, steht klein, kaum einen Meter hoch, gleichzeitig bauernschlau, dumpf und bieder blickend, in Bronze gegossen, im Keller des Sprengel-Museums in Hannover. In der Mitte der Relief-Plastik beugt er sich rundrückig und übermächtig über den Torso seines Opfers, dessen porösere Oberfläche die Zerstörung des Fleisches zum Tode sichtbar macht. Mit dem Arm weidet er den Brustkorb des Liegenden aus. Das sei, sagt Museumsdirektor Dieter Ronte, wahrhaft kein schöner Anblick, sondern „echt grausig“.

Der in Wien lebende Bildhauer Alfred Hrdlicka, Haarmann und das „gesunde Volksempfinden“ in der Landeshauptstadt an der Leine sind in eine emotionale Gemengelage geraten. Bürger schreiben böse Briefe — seitenlang in der Lokalpresse. Den Stein des Anstoßes, das „Haarmann-Fries“, schlug Hrdlicka 1966 aus Kalk- und Karststein. Das Sprengel-Museum kaufte den Bronzeabguß der Plastik für 150.000 Mark. Unversehens wuchs sich die Plastik in den Augen der Öffentlichkeit zu einem lokalen Monument aus. Es wurde zum „Denkmal für den Massenmörder“, zu einer „Perversion“, sei „beschämend“, „taktlos“, einfach „ein Machwerk“. Die Boulevardpresse heizte vor: „150.000 Mark — Das sind fünf Kitas“.

Kulturdezernent Karl-Ernst Bungenstab, in einer Talkshow nicht ganz trittfest auf dem Glatteis der Argumentation, nannte den Hannoveraner Haarmann rechtfertigend „einen Vorläufer des Nationalsozialismus“. Dies sei so platt, konterter ein Kommentator kühl, „wie die Behauptung, Jack the Ripper sei ein Sinnbild des Imperialismus“. Die Gefühle an der Leine verknoteten sich zusehends und machen einen Zeitzeugen erforderlich. Der Philosoph, Schriftsteller und Psychologe Theodor Lessing saß im Dezember 1924 als Berichterstatter einiger Tageszeitungen beim Prozeß im Gerichtssaal in Hannover. Oberstaatsanwalt Wilde warf Haarmann 27 bewiesene Morde an jungen Männern und Knaben vor. Über 600 Menschen waren in dieser Zeit der Entwurzelung, der Arbeitslosigkeit, des Hungers und der Not als vermißt gemeldet. Das Fleisch der Opfer habe Haarmann unter anderem an seine Vermieterin, eine Schankwirtin, gegeben, die Kleider der Opfer verschenkt und verkauft. Darüber, was Haarmann, der mit Fleisch und alten Kleidern handelte, tatsächlich mit dem Fleisch der Toten gemacht hatte, schwieg er beharrlich. Viele der Morde, an die er sich nicht erinnern konnte, gestand er bei Vernehmungen lapidar: „Schreiben Sie den man dazu!“

Berichterstatter Lessing, Professor an der Technischen Hochschule, wurde von Landgerichtsdirektor Bökelmann am elften Verhandlungstag des Saales verwiesen, als er Verstrickungen des Angeklagten mit der örtlichen Polizei zum Thema machte. Sechs Jahre lang hatte Fritz Haarmann, im kleinkriminellen Milieu um das Bahnhofsviertel aufgewachsen, als Polizeispitzel gearbeitet, sich selber zum Beamten stilisiert und die Anrede „Herr Kriminal“ genossen. Mit einem Polizeibeamten a.D. eröffnete er 1923 die Detektiv- Firma „Lasso“, half bei der Festnahme einer Geldfälscherbande mit.

Er fand seine Opfer — mit offiziellem Ausweis ausgestattet — im Hauptbahnhof: herumstreunende oder durchreisende junge Männer, die er mit Essen und Zigaretten in sein Zimmer lockte. Dort brachte er sie mit Würgen und Bissen in den Hals um und zerlegte sie anschließend säuberlich. Fleisch und Knochen schaffte er portionsweise aus dem Haus. Haarmann stand auch nach Pfingsten 1924 nicht in Verdacht, als erste Funde von Leichenteilen in der Leine eine fieberhafte Suche ausgelöst hatten. Einige Anzeigen waren nicht beachtet oder vertuscht worden. Peinliches Detail: Ein Polizist lief während dieser Zeit mit einem Geschenk Haarmanns auf dem Kopf spazieren: dem grünen Hut eines Ermordeten. Der Volksmund sang dem Massenmörder bald schaurige Moritaten: „Warte, warte noch ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu Dir— mit dem großen Hackebeilchen, und macht Büchsenfleisch aus Dir.“

Gegen Lessing begann nach seinem Ausschluß vom Verfahren eine systematische Hetzkampagne. Nationalsozialistische Studenten stürmten seine Vorlesungen, bedrohten ihn mit Eichenstöcken, jagten ihn durch die Stadt und bewarfen ihn mit Steinen und brüllten „Jude raus!“. Sie zogen demonstrativ zum Bahnhof, stiegen in einen gemieteten Zug und drohten ihre Immatrikulation im benachbarten Braunschweig an. Lessing hatte es zuvor auch noch gewagt, vor der Wahl des Hannoveraners Hindenburg zum Reichspräsidenten zu warnen und ihn ein „Zero“ genannt, hinter dem sich, menschlichen Machtstrebens eingedenk, immer auch ein „Nero“ verberge. 1926 kapitulierte Lessing und floh ins Ausland. 1933 wurde er in Marienbad von sudetendeutschen, gedungenen Nationalsozialisten gegen einen Judaslohn erschossen.

Hrdlicka widmet sich der Person Haarmanns, seiner trotz zahlreicher Vorstrafen zur Schau getragenen biederen Wohlanständigkeit, seinem mörderischen Überleben im Klima von Hunger, Not und staatlicher Willkür der 20er Jahre, zwischen Prostitution und Schwarzmarkt, seit 30 Jahren. Hrdlicka: „In ihm war der Schrecken seiner Zeit schon lange vor dem großen Schrecken manifest.“ Haarmann habe als „privater“ und „von der Polizei geschützter Massenmörder“ bereits vor denen agiert, die „vom Staat geführt werden“, und sei damit ein Seismograph, in seinem gesellschaftlichen Kontext ein Meßinstrument kommender Entwicklung gewesen.

Zeitzeuge Lessing schrieb 1925 zum Ende seines Buches über Haarmann — die Geschichte eines Werwolfes gegen die abwehrende Rache der durch die Richter verkörperten, Entsetzen absondernden Nation: „Wie wir von fremder Seele niemals mehr und niemals anderes wissen können als was wir eben aus uns selber wissen, so ist an Abändern, Verbessern und Aufrichten nur gerade so weit zu denken, als wir in unserem eigenen Leben die Mitschuld am Verhalten des anderen aufzufinden vermögen.“ Lessing trifft sich nach dem Todesurteil, am Abend des 19. Dezember 1925, mit den Angehörigen auf deren Wunsch in einem „kahlen Hinterzimmer“. Sie sind verbittert über die vertuschende Prozeßführung, darüber, daß Haarmann so lange, von den Behörden gedeckt, morden konnte. Ein von ihnen erhofftes Fanal der Rache gegen den Staat, ein zweites Gericht, hält ihnen der Professor nicht. Er schlägt einen Gedenktag vor und einen Gedenkstein mit der Aufschrift: „Unser aller Schuld!“ Der Stein wird so nie errichtet, und Lessing ging als „der meistgehaßte Mann Hannovers“ ins Exil.

Wortführer der heute noch lebenden Verwandten der Ermordeten gegen die Hrdlicka-Skulptur ist der Immobilienmakler Christoph Veltrup, der den Mörder seines Onkels nicht als Politikum sehen und seiner Mutter die Erinnerung an die Tat ersparen möchte. Haarmann, dem unterschiedliche Gutachter unterschiedliche Geistesgaben bestätigten, sei „schon mit 13 Jahren wahnsinnig gewesen, und: „Massenmörder hat es zu allen Zeiten gegeben“. Die Bronze wird im Mai, nach der Eröffnung des umgebauten Sprengel-Museums, öffentlich zu sehen sein.