Denkmalbesichtigung

■ Bettina Wegner war am vergangenen Freitag live in Hellersdorf

Die Beikarte VI am östlichen Ende des patentgefalteten Berliner Stadtplans zeigt Hellersdorf, eine aus Betonplatten gefertigte Siedlung auf umgepflügten, noch unbegrünten Äckern, auf denen Regenwasser sich in großflächigen Pfützen sammelt. Die wenigen Menschen auf der Straße weisen Fremden freundlich den Weg zum nahen Einkaufszentrum, wo — halbwegs zwischen Marzahn und dem Berliner Ring gelegen — über einem Blumengeschäft und der Filiale einer Drogeriekette der Klub Kontakt untergebracht ist. Eine keifende, durch Jahre der Übung beim Besuch von DDR- Gaststätten disziplinierte Menschenmenge steht vor dem Eingang des atriumartigen Baus und wartet darauf, vom vierschrötigen Türsteher eingelassen zu werden.

Nach einer kurzen Verkaufsschau durch den vor Nervosität zitternden Herausgeber eines Buchs über die Verhältnisse in ostdeutschen Gefängnissen tritt Bettina Wegner auf die Bühne. Der überfüllte Klubraum, ausgestattet mit kunstledernen Sitzelementen und niedrigen Couchtischen, hat den Charme einer evangelischen Kirche mit Verzehrzwang. Der Fall scheint klar: die Gäste, in der Mehrzahl ehemalige Bürger des verlorengegangenen zweiten deutschen Staates, sind in die Diaspora gekommen, um nostalgisch im DDR-typischen Spießer-Ambiente zu schwelgen. Doch da ist Bettina Wegner vor, die auf Konventionen pfeift und mit roter Nase erst einmal klärt, daß nur in der Pause geraucht wird. Ist es der Schnupfen, sind es die Jahre, die seit ihrer ersten, 1979 hingehauchten Langspielplatte vergangen sind? Die Stimme der Liedermacherin ist rauh und freundlich geworden, von Weinerlichkeit keine Spur. Tatsächlich erspart die 1972 am Ostberliner Studio für Unterhaltungskunst staatlich geprüfte Schlagersängerin sich in ihrem aktuellen Programm Cool sein jene Tearjerkers, die ihren legendär schlechten Ruf als Heulsuse begründet haben.

Die für das Rückgrat unvorteilhafte Gemütshaltung »Traurig bin ich sowieso« war einst ihr Markenzeichen: »Sie sind doch die mit den kleinen Händen« so wurde sie immer wieder angesprochen. Als sich Mitte der achtziger Jahre Tonträger von Liedermachern nicht mehr recht verkaufen, ist der Plattenvertrag bei der CBS weg und Frau Wegner ausgebürgert. Vergessen die Zeit, da sie — begleitet von der Ina-Deter-Band — eine deutschsprachige Version von Uriah Heeps Hippie-Schlager Lady in Black aufgenommen hat. Vergessen worden ist sie wohl auch von ihren Fans: Platten von Bettina Wegner sind aus dem Handel verschwunden.

Das Image der hageren Leidensfigur, an dem der Medienkonzern eifrig mitstrickte, ist einem verhaltenen Optimismus gewichen. Begleitet von dem Münchner Gitarristen Peter Meier, mit dem sie seit 1985 zusammenarbeitet, singt Bettina Wegner Lieder ohne doppelten Boden. Es geht um die aktuelle politische Landschaft und die Ängste, die sie wachruft: vor rechtsradikalen Kurzhaarträgern, vor Führer- und Konsumversessenen. Gewiß, ehrlich und gnadenlos vordergründig sind die Texte, beinahe so belanglos wie die gleichfalls ins Programm integrierte Ablach-Lyrik des mitreisenden Managers Rainer Lindner. Das alles wäre wirklich keine Kunst, sänge nicht die wunderbar präsente und furchtbar berlinernde Frau Wegner die Songs. So verwandelt sie etwa den polyrhythmischen »Zwiefacher« ihres Saitenzupfers Meier in ein Kinderlied für ihren messerversessenen Sohn. Unvermittelt surrealistisch wird es, als Bettina Wegner ihren alten Single-Hit spielt: »Ein silberner Mercedes und ein schwarzer BMW / fahren mit blutigen Reifen durch klaren Schnee / Jesus — steig nie herab / du kriegst keine Wohnung und vom Kuchen nichts ab / Denn Jesus war Jude und Pole dazu / Jesus war ein Schwarzer und kam aus Peru / Jesus war Türke und Jesus war rot / Mensch Jesus, bleib oben, sonst schlagen die dich tot.«

Naivität, Fabulierlust oder Ironie — es ist nicht mehr zu unterscheiden. Drei Zugaben noch und zwei Skinheads auf der ereignislosen Rückfahrt. Stefan Gerhard