: Friedensprozeß, aber kein Frieden
Seit vier Monaten laufen bereits die Nahost-Friedensverhandlungen — gleichzeitig verschärft Israel seinen Kurs in den besetzten Gebieten. Während die Bewegungsfreiheit der Palästinenser weiter eingeschränkt wird, erhalten israelische Siedler immer mehr Raum ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin
Der Friedensprozeß für den Nahen Osten, der in Madrid eröffnet wurde und heute mit bilateralen Verhandlungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten fortgesetzt werden soll, ist jetzt vier Monate alt — aber keine der bisherigen Verhandlungsrunden hat die Lage der Palästinenser unter israelischer Besatzung erleichtert. All die verschiedentlich vorgeschlagenen Maßnahmen zur Entspannung und Vertrauensbildung wurden von der Regierung Schamir entweder ignoriert oder abgelehnt.
Innenpolitische Erwägungen mit Hinblick auf die bevorstehenden Knesset-Wahlen und vielleicht sogar mehr noch der Wunsch, den status quo aufrechtzuerhalten und die „Israelisierung“ der besetzten Gebiete mit Hilfe einer weiteren Verschärfung der „Politik der Eisernen Faust“ zu beschleunigen, haben Israels Führer für Initiativen taub gemacht, die zu beiderseitigen Schritten des guten Willens und der Befriedung im Sinne der neuen in Madrid geschaffenen Atmosphäre hätten beitragen konnen.
Bestenfalls brachten palästinensische Zeichen des guten Willens die Besatzer in Verlegenheit. Sie zogen daraus den Schluß, die Zeit sei gekommen, um einer bereits geschwächten Intifada durch repressive Schläge endgültig das Genick zu brechen. Als Palästinenser in den besetzten Gebieten auf die Madrider Konferenz mit spontanen „Ölzweig“-Demonstrationen reagierten, verhängte die Besatzungsmacht Ausgangssperren.
In seiner Madrider Ansprache betonte der palästinensische Delegationsleiter Haidar Abdelschafi die dringende Notwendigkeit, die israelische Besiedlung der besetzten Gebiete einzustellen: „Über Frieden kann nicht verhandelt werden, während palästinensischer Boden auf verschiedenste Art und Weise beschlagnahmt wird und der Status der besetzten Gebiete tagtäglich durch israelische Bulldozer und Stacheldraht entschieden wird.“ Aber die intensive israelische Landnahme, die nach dem Golfkrieg einsetzte, wurde keineswegs unterbrochen — im Gegenteil: Seit dem Herbst ist das Tempo erhöht worden, und das Staatsbudget für 1992 zeigt, daß der Siedlungsprozeß auch weiterhin auf Hochtouren laufen soll. Mehr als 40.000 Dunam (ein Dunam enspricht circa 1.000 Quadratmeter) palästinensischen Bodens wurden in den drei ersten Monaten nach der Madrider Konferenz enteignet.
„Für mich ist die Besiedlung kein großes Problem“, hatte Israels Ministerpräsident Schamir einen Monat vor der Madrider Konferenz erklärt. „Es handelt sich um einen normalen Vorgang. Es ist nur natürlich, daß wir Siedlungen gründen oder andere erweitern. Denn wir gehen davon aus, daß das Land uns gehört.“ Schamir hat seine Stellungnahme seither bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt. Ausgerechnet nach der Eröffnung der Friedensverhandlungen gab die israelische Regierung den Siedlern grünes Licht, ihre eigene bewaffnete Miliz aufzustellen. Das Militär hinderte die Siedler auch nicht daran, in arabischen Ortschaften zu randalieren und Personen zu bedrohen.
Für einen Großteil der besetzten Gebiete hat die Besatzungsmacht eine permanente Ausgangssperre in den Abend- und Nachtstunden verhängt und Palästinensern verboten, sich auf einem Streifen von je 150 Metern auf beiden Seiten von Landstraßen aufzuhalten. Neue Schießbefehle ermöglichen es den Soldaten, in jedem Fall das Feuer zu eröffnen, wenn sie sich von Arabern in ihrem Leben bedroht fühlen. Dies bedeutet eine Erweiterung der vorherigen Ermächtigung, wonach es Angehörigen des Militärs erlaubt war, „maskierte“ Personen unter Feuer zu nehmen. Mit Beginn des Jahres 1992 kam es auch zu einer erneuten Verstärkung der Armeepräsenz in den besetzten Gebieten.
Zunahme der Kollektivstrafen
Trotz eines beruhigenden Berichts des US-amerikanischen State Departments über die angeblich verbesserte Menschenrechtssituation in den besetzten Gebieten stellt die trockene Statistik für 1991 fest, daß 135 Palästinenser von Israelis getötet wurden, davon 33 unter 16 Jahren. 286 Wohnhäuser wurden total zerstört, vier weitere teilweise demoliert, 57 total „versiegelt“ (also unbewohnbar gemacht) und 14 weitere teilweise. 20.562 Obst- und Ölbäume wurden von Truppen oder Siedlern vernichtet. Alle Schulen auf der Westbank mußten insgesamt 68 Tage geschlossen bleiben, im Gazastreifen 74 Tage. Totales Ausgehverbot war während des Golfkrieges verhängt, und für den Rest des Jahres gab es insgesamt 1.842 Ausgehverbotstage in 576 Ortschaften, Ausgehverbot während der Dunkelheit blieb für den gesamten Gazastreifen das ganze Jahr über bestehen.
Mitte Januar 1992 veröffentlichte das Arabische Anwaltskomitee in den besetzten Gebieten eine Erklärung, die die Zunahme der Kollektivstrafen und die Eskalation der Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten in der letzten Zeit verurteilte. Die Anwälte stellen fest, daß bereits 74 Prozent des gesamten Landes in Westbank und Gazastreifen von den israelischen Behörden konfisziert worden ist. Sie protestieren gegen die im Staatsbudget für 1992 vorgesehene Finanzierung des Baus von 23.000 neuen Wohneinheiten in den besetzten Gebieten im Laufe des Jahres und heben insbesondere die Rolle der Siedler hervor, die von den Behörden in eine „organisierte politische Kraft“ verwandelt würden, „die die Gesetze des Dschungels verwirklicht, um einen israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten gänzlich zu verhindern“. Weiter heißt es: „Mit der Unterstützung und Beteiligung der Besatzungsbehörden haben die israelischen Siedler das Gesetz in die eigenen Hände genommen. Es werden keine gerichtlichen Schritte gegen Siedler unternommen, die ganz offen Verbrechen begangen haben.“ Andererseits, so der Bericht, leben Tausende von palästinensischen Häftlingen in unmenschlichen Bedingungen, die im Widerspruch zu internationalen Konventionen und dem Standard für Kriegsgefangene stehen.
In Bezug auf Folter während der Haft veröffentlichte „Al-Haq“ — eine Organisation in Ramallah, die der internationalen Juristenkommission in Genf angegliedert ist — am 7. Februar eine besondere Erklärung, die sich auf ihre eigene Forschungsstudie vom Herbst 1991 bezieht. Danach waren 85 Prozent der 474 befragten ehemaligen Gefangenen in israelischer Haft mißhandelt oder gefoltert worden. Von weiteren 234 berichten 98,7 Prozent, daß sie während ihres Verhörs geschlagen wurden; über 91 Prozent berichten, daß man ihnen einen Sack über den Kopf gestülpt und daß sie gezwungen waren, in verschiedenen Körperhaltungen für Zeiträume bis zu einer Woche zu stehen. 44 Prozent berichten, daß sie in verschiedener Weise gewürgt wurden, und 6,8 Prozent geben an, mit Elektroschocks gefoltert worden zu sein.
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