»Ein ganz doller Kerl«

■ Nach dem Symposium das Kolloquium: Gershom Scholem zum zweiten

So richtig gezankt im Sinne Scholems wurde auch im Konferenzsaal des Martin-Gropius-Baus nicht. Vom 19. bis 21. Februar hatte das Institut für Judaistik der FU Berlin zu einem Kolloquium mit dem Titel Gershom Scholem — zwischen den Disziplinen geladen. Nach dem ersten, sehr speziellen Symposium zu Scholem und der jüdischen Mystik sollte es nun um die »andere Entfaltung von Scholems Werk, eben zwischen den Disziplinen« gehen.

Einführend rückte Gary Smith, Berlin, das »Jahrhundertwerk« des jüdischen Religionswissenschaftlers verdientermaßen neben das von Sigmund Freud und Franz Kafka und kündigte eine unvermeidliche Kontroverse über Scholem an. Nur zu, dachte ich. Immerhin bieten Werk und magische Persönlichkeit des Mannes jede Menge Stoff für Kontroversen. Gershom Scholem könnte, nicht nur den Berichten über ihn zufolge, geradezu als Mustersynthese aus begnadetem Geist und skurrilem Charisma gelten. Helmut Plessners Bekanntschaft machte er beispielsweise mit folgenden bissigen Worten: »Wissen Sie überhaupt etwas mit Ihrem würdigen Namen anzufangen?!!!« Worauf er dem Verdutzten dessen eigene Familienchronik bis zurück ins 16. Jahrhundert referierte, dabei in kürzester Zeit zwei Flaschen Himbeersirup leerend.

Aber genug der Schnurren. Mit Scholem, dem »Historiker als Prophet des Vergangenen« (Smith), habe der Diskurs zwischen der Judaistik und anderen Disziplinen erst begonnen. Hier im Gropius-Bau sollte vorläufiges Resümee gezogen werden. Amos Funkenstein von der University of California stellte denn auch in seinem Vortrag über Charisma, Kairos und messianischen Dialekt die Frage, wie Scholems aus sich selbst heraus längst nicht mehr erklärbare Wirkung gerade auf die nichtjüdische Fachwelt zu deuten sei. Mit dem Wechselspiel aus »persönlicher Aura« und »gesegnetem Augenblick des Wirkens«, aus kulturellem Kontext und geistiger Physiognomie sei nur eine Seite erfaßt. Scholems entscheidender geistiger Durchbruch liege darin, die mittelalterliche Kabbala als »schlechthin revolutionär« (!!), mehr noch, als von »ständiger historischer Aktualität« gelesen zu haben. Für Scholem sei das Judentum nicht mehr nur das leidend die Erlösung Erwartende, sondern das »gerade aktuell Schaffende«

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gewesen. Im Zionismus der dreißiger Jahre erhielt es die Chance, wieder in die Geschichte einzutreten. Was die Kabbala angeht: Nicht einfach der Wille zur Bloßstellung mache das Geheimnisvolle so faszinierend, sondern die Hoffnung, doch noch »etwas Wertvolles« zu finden. Der überzeitliche Mythos der Kabbala überwinde die Katastrophe und zerstöre dazu normatives Judentum und normativen Messianismus. Und genau um die Aufhebung durchschnittlicher, beengender Normative müsse es Scholem gegangen sein.

Nach Funkensteins heftig beklatschtem Vortrag wurde zu »produktiver Unruhe« aufgerufen, Das Resultat: betretenes Schweigen im Saal. Die sich dann vorwagten, forderten den Referenten kaum heraus. Im Anschluß an Zwi Werblowsky, den »Erben« Scholems, und Joseph Dan aus Jerusalem hielt Stéphane Mosès einen Vortrag über Scholem und die Aporien des Messianismus. Mosès hat gerade ein Buch über die Verbindung Rosenzweig-Benjamin- Scholem beendet, hier jedoch widmete er sich vor allem Scholems Geschichtsbild. Für Scholem bestand kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen Messianismus und Fortschritt. Vielmehr war ihm die messianische Erlösungsidee zutiefst mit der Vorstellung des Scheiterns verknüpft, so daß die Erlösung nicht mehr den Endpunkt der Geschichte darstellt. Die Erlösung müsse »aus Revolution und Umbruch« hervorgehen. Scholem entwickelte, unter anderem über antithetische Leitbegriffe, ein Geschichtsmodell, das für den plötzlichen Einbruch des Neuen offen ist, den »Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, in der die Geschichte selbst zugrunde geht«. Damit ging er jedem platten Determinismus antinormativ und anarchisch an den Kragen.

Leider wich man Richard Fabers Frage nach dem Anarchismus in Scholems Auffassung aus. Überhaupt wollte eine kontroverse Diskussion nicht so recht in Gang kommen, und als einer der Referenten dem unermüdlichen Funkenstein ein mildes »Ich bin mit Ihnen völlig einverstanden« servierte, entfuhr diesem ein energisches »Hoffentlich nicht!«.

Das war wohl ganz im Sinne Scholems, der 1944/45 seine Gedanken über die Wissenschaft des Judentums niederschrieb. Peter Schäfer vom Institut für Judaistik an der FU interpretierte den Essay, in dem Scholem »einer eifrigen, aber kastrierten Wissenschaft« (der Judaistik des späten 19. Jahrhunderts), der in ihr herrschenden »idyllischen, aufgeklärten Engstirnigkeit« zu Leibe rückte. Ihre Repräsentanten Zunz, Geiger und Steinschneider bezeichnete er als gelehrte Liquidatoren, ihre Judaistik als Beerdigungszeremonie, die aus »dem Erzvater Abraham das Abbild eines Stadtverordneten« mache. Gegen diese Orgie der Mittelmäßigkeit setzte Scholem einen Blick, der zu den Quellen der Wissenschaft zurückkehrt und in jede Einzelheit eindringt. Die Methode dieses Fanatikers des Details läßt sich mit dem Begriff des schöpferischen Zerstörens nur annähernd umreißen.

Auch im Vortrag Michael Brockes von der FU über Scholems Bekenntnis zu Rosenzweig standen Interferenzen im Mittelpunkt. Mit Benjamin habe Scholem nicht nur bestimmte Ideen, sondern auch die Vorliebe für manche Wörter, syntaktische Konstruktionen geteilt. Franz Rosenzweig sei gleichermaßen fasziniert wie verärgert von Scholem gewesen, der ihm das Gefühl vermittelte, »ich müsse von ihm lernen«, von diesem »dollen Kerl«, der ihm mal »wachsbleich engelhaft«, mal »ostjüdisch« entgegentrat.

Schon 1926 hatte der Wandlungsfähige ein Bekenntnis über unsere Sprache, einen deutsch abgefaßten Text über das Hebräische an seinen ehemaligen Lehrer Rosenzweig gerichtet. Im Jahrhundert des »Auszugs der Philosophie in die Sprache« (Gert Mattenklott) ist Scholems Verstummen im Deutschen, sein Übergang zum Hebräischen weit mehr als ein linguistisches Phänomen. Der kurze Bekenntnis-Essay offenbart ein tiefes Leiden an der Kluft zwischen heiliger Sprache eines heiligen Volkes und gesprochener Volkssprache. Oder der »Profanisierung des Heiligen«, wie es Irving Wohlfahrt nannte. Nachdem es lange Zeit unbeachtet blieb, gerät das »Bekenntnis« immer mehr in den Ruf eines Schlüsseltextes.

Gewarnt hatte Peter Schäfer vor den möglichen Blüten einer Scholem-Exegese. Nicht zwischen den Stühlen, zwischen den Disziplinen sei Scholem zu sehen. Im Gropius- Bau blieb man ordentlich auf den Stühlen, auch wenn mancher verstohlen darauf wippte und eine Teilnehmerin sich gar ihres Schuhwerks entledigte. Wie gesagt: Gezankt wurde wenig über Gershom Scholem. Gerade wegen seiner Streitlust aber hätte ich ihn gar zu gerne noch kennengelernt. Anke Westphal