: DAS MÜLL-PORTRÄT Von Mathias Bröckers
Freund Müller kann morgens sein Büro nicht mehr lüften. Früher, sagt er, war es nur dienstags und freitags früh: Der Müllwagen stand gut 10 Minuten vor seinem Parterrefenster und ließ Dieselmief ab. Mittlerweile kommt er auch noch montags und holt das Altpapier, und mittwochs erfolgt die Entsorgung des Altglascontainers — Recycling sei Dank kann er nur noch an einem Tag der Woche bei frischer Luft ans Werk gehen. „Nun ist die Abfuhr ja noch das geringste Problem“, meint Müller, „was ich gerne mal sehen würde, wäre mein Müll-Porträt.“ Müll-Porträt? „Na ja, den ganzen Haufen Müll, den ich bisher in meinem Leben hinterlassen habe!“
Müllers Müll-Idee ist prima: Das Müll-Porträt sagte mehr über uns und unsere Moral als jede andere Angabe zur Person. Versuchen Sie einmal, sich dieses Gebirge vorzustellen, angefangen bei den feinen organischen Abfällen, der täglichen Scheiße, über die Berge von Kohlen, Holz und Ölfässern, die Sie in die Luft gejagt haben, das Meer von Abwasser aus Spülbecken, Waschmaschine, Badewanne, bis hin zu dem täglichen Eimer, der in die Tonne wandert. Schon dieser quasi persönliche Berg summiert sich im Laufe eines Lebens zu einem gewaltigen Massiv, das komplette Müll-Porträt aber ist noch weitaus gewaltiger, denn all das, was der sogenannte Endverbraucher nie zu sehen bekommt, muß ja dazugerechnet werden: Sämtliche in der Produktion anfallenden Abfälle, einschließlich allen Gift-,-Sonder-, und Atom-Mülls gehören anteilig ebenfalls zu unserem individuellen Müll-Porträt. Einschließlich all jener Abfälle, die in die Dritte Welt exportiert werden, als Dünnsäure im Ozean landen oder auf Geistermüll- Schiffen über die Weltmeere irren. Unser Müll-Porträt ist kein statisches, sondern ein sich bewegendes Bild, es umfaßt den gesamten Globus und erstreckt sich bis in die oberste Stratosphäre, ja, noch im Weltraum wimmelt es mehr und mehr und von unserem ganz persönlichen, individuellen Dreck.
„Mein Gedächtnis ist wie eine Abfalltonne“, heißt es in einer Erzählung von Jorge Luis Borges — wir sollten dazu übergehen, unsere Abfalltonnen als Gedächtnis zu betrachten, als biographisches Porträt, als Informations-Speicher unseres „Umweltbewußtseins“. Sage mir, welchen Müll Du produzierst, und ich sage Dir, wer Du bist. Angesichts der Himalaya-artigen Müll-Porträts eines durchschnittlichen Europäers schrumpft das Recycling-Gedröhne, das Entsorgungs-Geschwätz und Endlager-Gefasel zu dem, was es in Wahrheit ist: Sprachmüll — ein grüner Punkt auf dem heißen Stein. Die Beruhigungsphilosophie des Recyclings: Du darfst dem Konsum — der Verwandlung brauchbarer Güter in Müll— getrost frönen, wenn Du den Abfall nur ökogerecht wegschmeißt. Parole: Getrennt sammeln — vereint das Bruttosozialprodukt steigern. Wenn demnächst das Getrennt-Sammeln konsequent betrieben wird, das Weißblech, die Batterien, ein halbes Dutzend Kunststoffe und und und, wird vor Müllers Büro circa 17mal pro Woche ein LKW vorfahren ...
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