: Beratung bis in die Nacht
■ Mielke-Verfahren: Gericht steht am Scheideweg
Berlin (taz) — Das glattlederne, bräunliche Hütchen (EVP 89,- Mark) war wieder da, Sonnenschein umspielte die Hallen, und zum ersten Mal seit Verhandlungsbeginn rief einer der berühmten Justizwachtmeister des Saals 700 — der mit dem Ohrring — herzhaft und aus voller Brust: „In der Strafsache Mielke! Prozeßbeteiligte, bitte eintreten!“ „Ich bitte Platz zu nehmen“, murmelte der Vorsitzende, was alle taten — bis auf den Angeklagten, der sich auch gestern nicht zur Ehre des Gerichts erhob.
Das Wort hatte der Staatsanwalt, Karlheinz Dalheimer. Mißmutig trug er seine schriftlich formulierte Stellungnahme gegen die Anträge der Verteidigung vor. Dalheimer wandte sich gegen die These, der gewaltsame Tod der beiden Polizeioffiziere im Jahr 1931 sei nur als (schneller verjährender) Totschlag, nicht aber als Mord zu werten. Der Mord an dem Vorsteher des 7. Polizeireviers Paul Anlauf sei vorsätzlich und aus mehreren niedrigen Beweggründen begangen worden: Zum einen sollte Rache für den am Vortag von der Polizei erschossenen Arbeiter Fritz Auge geübt und zum anderen „die Vertreter des ungewollten Weimarer Staates“ getroffen werden. Politische Motivation sei aber im Zusammenhang mit Mord stets als niedrig anzusehen, es sei denn, sie ist durch den Artikel 20 des Grundgesetzes gedeckt. Das dort formulierte Recht auf Widerstand könne der Angeklagte für sich aber nicht in Anspruch nehmen, da sich die Tat absichtsvoll gegen ein demokratisches Staatswesen richtete.
Darüber hinaus machte Dalheimer geltend, daß Mielke beschränkt verhandlungsfähig und sein immer wieder „gezeigter Totstellreflex“ simuliert sei. Nach Dalheimer ist die Auffassung der Verteidigung abwegig, daß es im Berlin des Jahres 1947 keine deutsche Strafjustiz gab und daher kein rechtsgültiger Haftbefehl gegen Mielke ausgestellt werden konnte. Vielmehr habe die Alliierte Kommandantur schon im Oktober 1945 „die sachliche Unabhängigkeit der Richter“ bestätigt und in aller Regel geachtet.
Die rechtliche Verwertbarkeit der 1933/34 von der SA-Hilfspolizei, Beamten der Gestapo und der Berliner Justiz getätigten Ermittlungen in Sachen „Lenck/Anlauf“ beurteilte Dalheimer eher zurückhaltend: Wenn sich im Verlauf der Hauptverhandlung zeige, daß die damaligen Ermittlungspraktiken den „heutigen Vorschriften nicht genügen“, so sei dies eben von den Tatrichtern bei der Würdigung der Beweismittel zu berücksichtigen.
Nach 30 Minuten zog sich die Kammer zur Beratung zurück — „vielleicht bis heute Nacht“, wie der Vorsitzende Richter Seidel bemerkte. Die Entscheidung über die Anträge soll morgen verkündet werden. Vorab allerdings klärte das Gericht die Öffentlichkeit darüber auf, wo der Hut beim letzen Mal abgeblieben war. Seidel: „Ich hatte angeordnet, daß Herr Mielke ohne Hut erscheint, aber ich will nicht, daß das mit Gewalt geschieht.“ Götz Aly
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