Ausgeraubt von Staat und Inflation

Ohne Lobby: Polens Alte sind Polens Arme/ Rentengesetz ist zwar verfassungswidrig, doch für eine Änderung fehlt das Geld  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Die alte Frau geht mit gesenktem Kopf an die Ladentheke, zieht sorgfältig einige kleine Scheine aus der Geldbörse, streicht sie glatt und sagt leise: „Bitte ein Brötchen, 20 Deka Käse und eine Tomate und einen Joghurt.“ Als sich herausstellt, daß ihr Geld nicht reicht, verzichtet sie auf den Joghurt. Das sei, sagt sie, alles, was sie sich an diesem Tag an Essen leisten könne. Die nächste bitte.

Solche Szenen sind in Warschau keine Seltenheit mehr. Auch wenn zwischenzeitlich die Renten sogar etwas schneller als die Löhne anstiegen, sind unter Polens Rentnerinnen und Rentnern besonders viele Sozialfälle. Viele Renten liegen unter einer Million Zloty (ca. 140 DM) — bei einem landesweiten Durchschnittseinkommen von zweieinhalb Millionen. Polens Alte konnten sich am wenigsten durchsetzen, als es darum ging, die Leistungen der staatlichen Versicherungen der Inflation anzupassen.

Hinzu kommt, daß sich bei der Staatlichen Sozialversicherung ZUS nicht nur die Inflation, sondern auch die Regierung mehrfach bedient hat. Die Folge: Weder Lebensarbeitszeit noch Rentenbeiträge haben etwas mit der Höhe der Leistungen im Alter zu tun. Entstanden ist ein Chaos, das selbst für den Staat nicht mehr finanzierbar ist — ein Menetekel für alle Länder mit ehemaliger zentraler Planung, in denen sich die Menschen bei einer Sozialversicherung zwangsversichern mußten.

Das Elend begann vor vielen Jahrzehnten, als die Inflation in Polen noch gering war. Damals schien es keinen Grund zu geben, das Budget von ZUS und Staat zu trennen. Polens Machthaber erkannten die Rentenansprüche ihrer Bürger aus der Vorkriegszeit nicht an. Es wurde nur die Arbeit in der Volksrepublik gezählt. In den siebziger Jahren hatte ZUS dadurch sogar Überschüsse, die sich der Staat „auslieh“ — ohne Zinsen und, wie sich später herausstellte, auch ohne Tilgung. Die achtziger Jahre brachten immer höhere Inflationsraten und immer mehr Branchenprivilegien. Vorzugsrenten aus politischer Rücksichtnahme— von Bergarbeitern über Polizisten bis zu verdienten Genossen — nahmen überhand. Der Zusammenhang zwischen Rentenbeitrag und Rentenleistung ging immer mehr verloren. Anders als westliche Versicherer durfte ZUS seine Einnahmen nicht anlegen. Sie lagerten auf einem Konto der Nationalbank, wo sie weit unter der Inflationsrate verzinst wurden. Das schien gerecht, denn Kredite waren damals eine Art Subvention und Guthaben daher entsprechend niedrig verzinst. Mehr eingebracht hätte es, so errechnete man später, wenn ZUS seine Zloty in Dollar getauscht hätte. Der Inflationsfalle fielen auch all jene zum Opfer, die sich privat zusatzversicherten. Mancher Landwirt verkaufte Maschinen und Land, damit er die horrenden Beiträge entrichten konnte. In den 60er und 70er Jahren versprach ihnen die Staatsversicherung PZU dafür Leistungen, die damals einem halben Durchschnittseinkommen entsprachen. Heute erhalten die Versicherten dafür gerade noch eine Handvoll Zloty.

Einem Rentenempfänger stehen in Polen zwei Werktätige gegenüber, die jeweils 43 Prozent ihres Lohnes als Sozialabgabe abführen. Folglich, so fand die Posener Zeitschrift 'Wprost‘, müßten für jeden Alten mindestens 80 Prozent eines Durchschnittseinkommens als Rente herausschauen. Denn formell sind die Renten inzwischen an die aktuellen Mindesteinkommen gekoppelt, um Polens Alte vor einer völligen Nulldiät zu bewahren. Die Rechnung geht allerdings nicht auf, da der Gesetzgeber ZUS auch noch mit Krankengeldern, Invalidenrenten und Mutterschaftsgeldern belastet hat. Das Ergebnis: ZUS zahlt viel mehr aus, als es einnimmt. Im Jahr 2000, so 'Wprost‘ ironisch, müßten die Sozialabgaben somit mehr als 100 Prozent der Löhne betragen.

Niemand in Polen glaubt mehr daran, daß es sich lohnt, alt zu werden. Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, hat die Regierung versucht, die Arbeitsmöglichkeiten für Rentenempfänger einzuschränken— bis das Verfassungsgericht das zurückwies. Zahllose Alte arbeiten in Polen legal und illegal nach Erreichen des Rentenalters weiter: als Garderobenfrauen, Haushaltshilfen oder Zeitungsausträger. Viele vermieten Teile ihrer Wohnungen. Früher hatten sie dazu noch einige kleine Privilegien. Sie mußten beim Einkaufen nicht Schlange stehen. Heute gibt es keine Schlangen mehr, sondern horrende Preise.

Eine Lobby haben sie nicht. Die letzte Altendemo gab es vor zwei Jahren — organisiert von den kommunistischen Gewerkschaften OPZZ. Nur Ewa Letowska, inzwischen abgelöste Justizombudsfrau, focht noch für die Alten. Zuletzt hatte sie immerhin erreicht, daß Teile des neuen Rentengesetzes für verfassungswidrig erklärt wurden. Um das zu ändern, fehlt der Regierung allerdings das Geld.