Der Prozeß kehrt nach Memmingen zurück

Theaterstück über Abtreibung in der Stadt der „Hexenprozesse“/ Spielorte wollten von Aufführung nichts wissen/ „Memmingen, ein Theaterstück“ sorgt im Theater und in der Stadt für hitzige Diskussionen  ■ Aus Memmingen Klaus Wittmann

Beginnen wir am Schluß. Nach einer peinlichen Befragung, wie sie aus den Memminger Prozessen hinreichend bekannt ist, steht die verhörte Frau auf und ohrfeigt den Vorsitzenden Richter — im Theaterstück. War es zuvor noch mucksmäuschenstill im vollbesetzten Stadttheater von Memmingen, so will mit einem Mal der Applaus nicht mehr enden. Es ist, als hätten die Memminger auf diesen Moment gewartet. „Die beste Szene, fand ich, war die, wo die Frau den Richter geohrfeigt hat“, sagt eine Theaterbesucherin, und sie erntet damit Beifall bei ihren Freundinnen.

Nach der langen Krankenhausszene war die für die Memminger Prozesse typische Verhörszene zwischen Richtern und Frauen in Bettina Fless' Stück Memmingen, ein Theaterstück bewußt kurz gehalten. Die Richter sitzen noch auf den Krankenbetten, in denen zuvor die Frauen ihrem Schwangerschaftsabbruch entgegengewartet haben. Jede auf sich gestellt, alleingelassen. In der Klinikszene, wo die Massenabfertigung des legalen Abbruchs so hart deutlich wurde, wo im Kontrast zur vorangegangenen Beratungsszene in der Praxis von „Dr.Teufel“ deutlich wurde, was individuelle Beratung einer Frau in dieser Situation bedeutet, in dieser Szene war das Theaterpublikum von Memmingen wie hypnotisiert. Die Betroffenheit war greifbar, war in diesem Theater in dieser Stadt plötzlich allgegenwärtig. Und da war es dann befreiend, dieser Ohrfeige applaudieren zu können.

„Es ist anders als anderswo“, sagt eine Schauspielerin, „wenn wir dieses Stück in dieser Stadt aufführen. Wir hatten auch echt Angst, daß es zu Zwischenfällen kommt. Und wir sind sehr froh, daß es so gut gelaufen ist.“ Memmingen, knapp 40.000 EinwohnerInnen, zwei Jahre, acht Monate und 18 Tage nach dem Urteil gegen Dr.Horst Theissen wegen illegaler Schwangerschaftsabbrüche. An diesem verregneten Sonntag abend strömen die Menschen in Massen in ihr Theater. Nur etwa 40 Prozent von ihnen sind Stammgäste. Die radikalen Lebensschützer, die zwei Tage zuvor noch ihre Sprüche — „Es ist weniger schlimm, Soldaten zu töten, als werdendes Leben“ — in die Mikrophone und Kameras eines WDR-Teams gegeifert hatten, sie sind nicht gekommen. Es sind auch nicht diejenigen TheaterbesucherInnen dort, die bei der Amadeus-Inszenierung vor einigen Jahren schon beim Anblick eines blanken Busens das Theater verlassen haben.

Aber die, die gekommen sind — immerhin mehr als 400 — wollen sich noch einmal auseinandersetzen mit den Prozessen. Memmingen, ein Theaterstück steht als Gastspiel des Westfälischen Landestheaters Castrop-Rauxel auf dem Programm des Landestheaters Schwaben (LTS). Es ist die überarbeitete Fassung eines Dramas von Bettina Fless, das — so die Autorin — bewußt an die Memminger Prozesse anknüpft. „Ich wollte keine Dokumentation über die Memminger Prozesse schreiben. Mich hat die Wirklichkeit interessiert, die Wirklichkeit der Frauen, die auch vor Gericht weitgehend ausgeblendet wurde.“ Der Titel Memmingen sei auch ein Trick von ihr gewesen, weil nun einmal der Name dieser Stadt Synonym geworden ist für die Verfolgung von Frauen, die keinen anderen Weg mehr sehen als den Abbruch ihrer Schwangerschaft.

Die Erklärung des LTS-Intendanten Norbert Hilchenbach, daß eine eigene Inszenierung nicht möglich war, weil die Spielorte nicht mitzogen — „Was draußen, draußen in unserem Spielgebiet, bei den Abstecherorten, auf uns zukam, war die pure Ablehnung, da war eine Wand“— bezeichnete Bettina Fless als „ganz blöde Ausrede“. Die Meinung bei den TheaterbesucherInnen dazu ist ganz unterschiedlich. „Ich bin froh, daß das überhaupt hier gezeigt wurde, das hätte ich nicht für möglich gehalten“, sagt eine Frau, der die Betroffenheit auch Minuten nach dem Schlußapplaus noch ins Gesicht geschrieben ist. „Ich finde, ein einmaliges Gastspiel ist zuwenig“, hält ihre Freundin dagegen.

Keiner der Spielorte wollte Memmingen kaufen, und das LTS als Zweckverbandstheater mit einer konservativen Verwaltungsspitze ist nun einmal darauf angewiesen, daß die Stücke gekauft werden von den Abstecherorten, die bis hinein nach Tirol gehen. Aber in Memmingen ist an diesem Abend das Theater brechend voll. Bei der anschließenden Diskussion mit der Autorin und einigen Schauspielerinnen und Schauspielern lichten sich die Reihen erst weit nach Mitternacht. Immer wieder ist an diesem Abend eine Frage zu hören: „Die großen Herrschaften fehlen wohl?“ In der Tat ist — mit Ausnahme des Heimatpflegers, der sich recht positiv zu dem auch beim Publikum nicht unumstrittenen Stück äußert —, kaum Prominenz zu sehen. Der Oberbürgermeister hat sich bei der Autorin entschuldigen lassen und sich dafür prompt eine Einladung nach Nürnberg eingehandelt, wo ihr in Kürze für Memmingen der Kulturpreis der Stadt verliehen wird. Sie fehlen an diesem Abend, die Herrschaften, die sich doch sonst so gerne im Theater zeigen — vorwiegend bei Premieren von schönen Klassikern. Trifft es für sie auch zu, was oft in der Fußgängerzone zu hören ist, wenn man die PassantInnen zweidreiviertel Jahre nach den Memminger Prozessen befragt? „Ich finde, da muß jetzt endlich Schluß sein, Schwamm drüber“, sagte eine junge Dame stellvertretend für viele andere. Doch nicht alle Memminger reagieren so. „Der Ruf ist dahin, aber der war schon immer schlecht“, schimpft eine ältere Frau. „Ich finde schon, daß es Mord ist“, ereifert sich eine junge Dame. Ihre Mutter widerspricht ihr: „Nein, so hart darfst du das nicht sagen. Man kann nicht pauschal sagen, daß es Mord ist. Ich finde, das ist eine sehr persönliche Entscheidung, die jede Frau für sich selbst treffen muß.“

Memmingen, ein Theaterstück hat die Memminger wieder etwas aufgerüttelt, hat zur Konfrontation mit dem gezwungen, was war.

Viele scheinen darauf regelrecht gewartet zu haben, auch wenn es anderen absolut unangenehm ist. Hört man genauer hin, was dieser Tage in der Stadt gesprochen wird, dann sind da auch sehr differenzierte Töne zu hören. Viel ist die Rede vom Verständnis für die Frauen. Man spricht wieder mehr über die Prozesse. Man fragt wieder nach Richter Albert Barner, der inzwischen pensioniert ist. Man diskutiert wieder über den Richter Detlef Ott, der damals wegen Befangenheit ausscheiden mußte, nachdem bekannt geworden war, daß er selbst bei seiner Freundin an einer Abtreibung beteiligt war. Längst ist Ott, der eine Zeitlang nach Augsburg versetzt war, wieder Richter in Memmingen. Allerdings nicht mehr am Landgericht, sondern am Amtsgericht. Für ein paar Tage ist es wieder so wie im Mai 1989. Fernsehkameras surren, Reporter fragen, suchen das Landgericht, wo sie jedoch keine offiziellen Stellungnahmen bekommen. Mikrophone werden den Passanten hingestreckt. Spät abends dann nach der Diskussion nach dem Theaterstück, sagt eine Frau: „Es gibt viel aufzuarbeiten!“