: Lauf durch das Emotionsspektrum
Jürgen Mennel, Deutscher Meister im 100-Kilometer-Lauf, Sozialpädagoge und Sportphilosoph ■ Von Jürgen Stegmaier
Heilbronn (taz) — Tief im Schwäbischen Wald läuft etwas: teils barfuß, gestärkt durch Malzbier und Bananen, rennt Jürgen Mennel, ein Langstreckenläufer von Weltklasseformat, den von der Freizeitindustrie und Sportfunktionären suggerierten Bedürfnissen und Zwängen davon. Am Ziel, wie vor 2.481 Jahren angeblich der Läufer Aristion, als er in Athen seinen Landsleuten vom Sieg über die Perser in Marathon berichtete, ist Jürgen Mennel nach 42 Kilometern und 195 Metern noch lange nicht. Der zweifache Deutsche Meister bremst erst nach rund 100 Kilometern — wenn überhaupt. Denn für den 31jährigen hört das Laufen nicht auf, wenn seine Beine zur Ruhe gekommen sind.
Laufen ist für den Sozialpädagogen — „die ersten zehn Minuten fallen mir immer schwer“ — nicht nur Körperertüchtigung, sondern auch Therapie, geistige Herausforderung, Naturerlebnis und Völkerverständigung. Er läuft nicht nur für sich, er sucht nicht die Anerkennung, die der Sportler gewöhnlich nur dann findet, wenn seine Zeiten, Weiten, Geschwindigkeiten oder Punkte hochoffiziell registriert und bewertet werden. Der Vize-Weltcupsieger (1991) benutzt seine Wettkampf-Ergebnisse, um auf sportliche Ideale aufmerksam zu machen, die in der Freizeitgesellschaft verloren zu gehen drohen. „Die Funktionäre schenken einem Deutschen Meister mehr Beachtung, als dem Gründer eines alternativen Sportvereins“, weiß Mennel aus vielfachen Erfahrungen.
Jürgen Mennel fordert Raum und Gerät nicht nur für Vereinssportler. Als Gründer des Heilbronner Klubs Ulysses — Sport- und Kulturinitiative e.V. — will er auch Behinderte und Heimatlose in den Sport einbezogen wissen — „Spaß am Sport hat schließlich jeder.“ Im Spieltreff ohne Wettkämpfe sind auch Untalentierte nicht ausgeklammert. „Wir bieten konkurrenzfreie Spiele an“, erklärt der Dauerläufer.
Für sich persönlich lehnt Jürgen Mennel das Prinzip Leistung im Sport freilich nicht ab. Aber: „Ich erhebe nicht den Anspruch, Leistung sei das Nonplusultra im Sport. Ich will nicht den Kult um das Siegertreppchen“, stellt Mennel seinen Standpunkt klar.
Herausforderung und Naturerlebnis sind wesentliche Bestandteile des Mennelschen Sportverständnisses. Es reizt den Sozialpädagogen, durch natürliche Mittel seine Leistung zu steigern. Als natürliches Mittel versteht der Vize-Weltcupsieger im Hundert-Kilometer-Lauf beispielsweise das Nacktbad in einem See, auch zur Winterszeit. „Ich muß mir meine Willensqualitäten immer wieder aufs Neue beweisen“, erklärt Jürgen Mennel die Sprünge ins kühle Naß. Wenn Jürgen Mennel läuft, geht's im Kopf des zweifachen Deutschen Meisters (100 Kilometer auf der Bahn) zuweilen rund. „Das monotone Laufen hat auch seinen Reiz. Zeitweise ist es der totale Krimi. Bei einem solchen Lauf mache ich das ganze Emotionsspektrum durch — von Euphorie bis Hilflosigkeit“, faßt Mennel seine Empfindungen zusammen.
Der politischen Dimension des Sports begegnet Jürgen Mennel mit Friedensläufen — in die neuen Bundesländer, in die Schweiz, nach Frankreich. Er wirbt als Sportler für Völkerverständigung.
Jüngstes Kind der Mennelschen Sportphilosophie ist ein Sponsorenmodell, auf das ein Mineralbrunnen aus dem süddeutschen Löwenstein — der Ort ist eher bekannt durch ein anderes Getränk: den Württemberger Trollinger — prompt angesprungen ist. Zwar sprudelt die Geldquelle keine Reichtümer in die Taschen des Dauerläufers aus Mainhardt-Steinbrück, doch 400 Mark im Monat sind's allemal. 300 Mark benötigt Jürgen Mennel, der lediglich 65 Prozent arbeitet, für Trainingslager, Ausrüstung und die Ernährung — 5.000 Kalorien täglich.
Die anderen 100 Mark stellt der Mineralbrunnen Mennel zur Verfügung, damit sie dieser in der evangelischen Stiftung Lichtenstern (bei Löwenstein) sinnvoll für sportliche Zwecke einsetzt. In dieser Stiftung arbeitet Jürgen Mennel mit geistig behinderten Menschen. Der Sozialpädagoge kennt die Potentiale der Behinderten, aber auch ihre Schwachstellen. Zusammen mit anderen Freizeitpädagogen stimmt Mennel die Unterstützung der einzelnen Behinderten auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten ab. Jürgen Mennel: „Bei diesem Modell bekommt der Sponsor seine Werbung, der Sportler die nötige Unterstützung und ein soziales Projekt die dringend erforderliche sporttherapeutische Förderung.“
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