: „Wilde Sau“
■ Razzien als Strafaktion gegen alle
Seit der spektakulären Flucht mit Geiselnahme im Oktober 1991 haben die Inhaftierten dieser Anstalt vier Polizeirazzien über sich ergehen lassen müssen. Die letzte war am 10. Februar des Jahres und hat alles in der über 250jährigen Geschichte der JVA in den Schatten gestellt. Selbst viele Beamte hatten für eine solche Aktion kein Verständnis und nur ein Kopfschütteln übrig. Die Polizei, „dein Freund und Helfer“, hat hier buchstäblich wilde Sau gespielt: Privat- und Anstaltsregale wurden mitsamt Haken und Dübeln aus der Wand gerissen, Fußbodenbretter herausgebrochen, private technische Geräte zerlegt, die gesamten Hafträume vollkommen geleert, Blumentöpfe wurden durch Gegeneinanderschlagen (Zerstörung) auf versteckten Inhalt überprüft, Arbeitsmaterial der Zellenarbeiter wurde zerschnitten und zerstört und so weiter. Gefunden wurde nichts, aber auch rein gar nichts! Keine gefährlichen Gegenstände, kein Alkohol, kein Hasch — eben nichts!
Einige Zellen sind heute noch nicht wieder bewohnbar. Die zum dritten Zellengang des Haupthauses (dort war diese letzte Razzia) gehörenden Gefangenen waren in die Fernsehräumne des zweiten und vierten Zellengangs zusammengepfercht. Als sie endlich zu ihren Hafträumen zurückkonnten, traf einige buchstäblich der Schlag. Einer ging sofort in den Hungerstreik, ein anderer versuchte zu „schnibbeln“, und ein dritter wollte seine leere Hütte gleich anstecken. Dieser neuerliche Streß, der vorhergehende Streß und der Streß durch die restriktiven Maßnahmen seit der Geiselnahme mit Flucht waren für einige nicht mehr verarbeitbar. Es trifft wie immer die falschen, diejenigen, die nichts mit den Vorfällen im Oktober letzten Jahres zu tun hatten und das Vorgehen der Geiselgangster sogar verurteilen.
So hat ein Polizeisprecher bei der vorletzten Razzia zu einem höheren Beamten gesagt, er käme gerne mal wieder, solche Aktionen wären für seine Leute gut zum Austoben und Abreagieren. Was draußen in der Öffentlichkeit nicht sein darf ( weil es negativ auffällt), wird das nun in die Knäste verlegt? Dort, wo keine Öffentlichkeit herrscht, kann man es ja machen! So ist es auch nicht verwunderlich, daß keine offizielle Meldung über den Äther ging und nichts in den Zeitungen zu lesen war. J.A., JVA Celle I
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