: »Broyt mit teater«
■ Miriam Kressyn und Seymour Rexsite, die Stars des amerikanisch-jiddischen Theaters, erstmalig in Deutschland
Daß man heute in New York noch immer jedes Genre des jiddischen Theaters, einschließlich des purimshpil, das die Errettung der Juden vor dem bösen Haman darstellt, erleben kann, ist hierzulande weitgehend unbekannt. Purimshpiln, die Vorläufer des jiddischen Theaters, gehen bis ins 16. Jahrhundert zurück und werden jedes Jahr im Frühling vor allem von den Bubover Chassiden in Brooklyn aufgeführt. Die traditionsreiche »Folksbiene« produziert seit 1915 jeden Winter ein Stück. Neue Theatergruppen wie das Jiddische Theater von Joseph Papp in New York mit ihrer Produktion von Itzik Mangers Lider fun gan-eydn (Lieder aus Paradies) 1988 sowie die verschiedenen nostalgischen Shows wie Those Were The Days von Zalmen Mlotek zeigen, daß es immer noch oder wieder ein Publikum für das jiddische Theater gibt. Musikalische Komödien wie Di Rebitsn from Israel, My Mamma the General mit Pesakh Burstein und Lilian Lux geben den Ton an: Di Rebitsn war die am längsten gespielte Show des letzten Vierteljahrhunderts. Aus den paradierenden Spaßmachern, Sängern und verkleideten Talmudstudenten sind Stars und Legenden geworden, die vom Applaus ihres Publikums in Buenos Aires, Toronto, Melbourne und Johannesburg verwöhnt sind und deren Geschichte Theater- und Filmgeschichte ist: jiddische Geschichte.
Miriam Kressyn und Seymour Rexsite, beide in Osteuropa geboren, kamen als Kinder in die USA und begannen sehr früh ihre Bühnenkarriere. Das achtjährige Wunderkind Rexsite erwärmte mit seinen Liedern das Herz des damaligen Präsidenten Coolidge und erreichte dadurch für seine Familie eine Aufenthaltserlaubnis in der Neuen Welt. Während die schöne, romantische Heroine Miriam Kressyn 1930, ein Jahr nach dem ersten jüdischen talkie, in Sailor's Sweetheart der Judea Pictures als Matrosenliebe die Herzen brach, glänzte der gutaussehende Seymour Rexsite, ihr späterer Ehemann, in Sidney Goldins Heuler Mayn Yidishe Mame. Bei der Premiere des Films in Tel Aviv im September 1930 wurde von fanatischen Verfechtern der hebräischen Sprache die Leinwand des Mograbi-Theaters mit Tinte begossen. In erster Ehe war Kressyn mit dem exzentrischen Tänzer Hymie Jacobson verheiratet, mit dem sie 1938 in Polen die Hauptrollen in Joseph Greens Purimshpiler spielte, ein Film, der an die Herkunft des jiddischen Theaters erinnert. Teile des im Film dargestellten purimshpils wurden drei Jahre später im Nazifilm Der ewige Jude zur »Dokumentation« jüdischer Gebräuche mißbraucht.
Von jiddischen Schauspielern erwartete man mehr als nur die Kunst der Darstellung: Die geschulten Sänger Rexsite und Kressyn nahmen unzählige Platten auf mit Orchestern wie von Abraham Ellstein, einem der populärsten Operettenkomponisten der zwanziger und dreißiger Jahre. Seit 1944 haben Kressyn/Rexsite ihre eigene Radiosendung beim New Yorker WEVD, Memories of the Yiddish Theater und begeistern seit Jahren mit ihrer Show gleichen Namens das Publikum. Beide waren Mitbegründer des »Yiddish National Theater« von 1980 und bekamen 1990 den »Lifetime Achievment Award« vom New Yorker YIVO Institute for Jewesh Research für ihren lebenslangen Beitrag zur jiddischen Kultur. Als amtierender Präsident der »Hebrew Actors Union« hält der Schauspieler Seymour Rexsite Hof an der Lower Eastside, dem ehemaligen Zentrum des jiddischen Theaters. Seine Vorgänger im Amt waren Leon Liebgold, der Liebhaber aus dem Film Dybbuk und Herman Yablokoff, genannt der payats, weil er, ganz in der Tradition der Clowns, die die purimshpiln einleiteten, mit weißgeschminktem Gesicht auftrat. Die Theater der 2nd Avenue sind abgerissen oder zweckentfremdet, von großen Zeiten künden noch Starfotos an den Wänden des »2nd Avenue Deli« — heutige Evozierungen von yidishkayt finden eher in Broadway-Häusern oder in Greenwich Village statt.
Schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts konnten sich aschkenasische Juden überall auf der Welt eines regen Theaterlebens erfreuen. Für kurze Zeit entwickelte sich London als Durchgangsstation nach Amerika zum Zentrum jiddischer Unterhaltungskunst, insbesondere der »Princess Club« des koscheren Metzgers Smitke. Das erste professionelle jiddische Theater in den Vereinigten Staaten wurde 1882 von dem damals unbekannten 13jährigen Boris Thomashefsky gegründet. Um die Jahrhundertwende jedoch war New York das Mekka der jiddischen Kultur, und die über eine Million zählenden, meist in erbärmlicher Armut lebenden Juden der Lower Eastside konnten unter mehreren Theatern, Music Halls, an die zehn Cabarets sowie Amateur Drama Klubs und unzähligen Vortragsreihen, Konzerten und Tanzhallen wählen. »Sie aßen ihr Broyt mit teater«, wie es damals hieß. Das heimwehkranke, hoffnungsvolle und temperamentvolle Publikum, von dem antisemitischen Autor Henry James angewidert beschrieben, kommentierte lautstark die Darbietungen seiner Schauspieler. Patriotn, heute Fans genannt, waren ein weiterer Beweis für die leidenschaftliche Verbindung des Publikums zu seinem Theater. Bekannt ist der Aufmarsch von Adler-patriotn vor dem Theater, in dem David Kessler den »Uriel Acosta« spielen sollte — eine Rolle, in der Jacob P. Adler vorher Triumphe gefeiert hatte. Schilder mit der Aufschrift »Nur Adler ist der wahre Uriel Acosta« provozierten die Kessler-Anhänger im Theater zum Aufkippen von Wasserkübeln.
Das jiddische Theater hat sich immer die Intimität der purimshpiln und die Atmosphäre der osteuropäischen Weingärten und Wirtshäuser bewahrt. Die Stücke sind, obwohl oberflächlich zeitbezogen, im Grunde wie die populären Stücke vor sechzig, siebzig Jahren. Zwar werden Jom Kippur-Krieg und Hippies registriert, aber die kleinen Mißverständnisse, Verwechselungen und Liebesgeschichten bilden immer noch den Hauptkern der Handlung, garniert mit Liebesduetten der jungen Liebenden und den Couplets der älteren Paare. Oft ist der Handlungsort ein Wohnzimmer in der Bronx oder Miami Beach, aber My Mamma the General spielt in einem Bunker im Sinai.
Fast alle großen Stars des frühen jiddischen Theaters begannen ihre Karriere bei Avrom Goldfadn (1840-1908), dem russischen maskil (Aufgeklärten), Dichter und Liederautor. Goldfadn gründete 1876 in Jassy (Rumänien) das erste professionelle jiddische Theater. Viele seiner Schauspieler wie Jacob Adler, Sigmund Mogulesko, David Kessler und Keni Liptzin waren badkhonim (traditionelle Hochzeitsunterhalter), Wirtshaussänger und sogar ganovim (Diebe) gewesen und besaßen keine Bühnenerfahrung. Die Rollen waren eher Entwürfe, Charaktertypen, die die Schauspieler mit ihrer Persönlichkeit und Improvisation ausfüllten. Obwohl dieses sogenannte shund-Theater — jiddischer Kitsch oder eigenständige amerikanisch- jiddische Kunstform — unter den Massen sehr populär war, stellten sich Schriftsteller wie Jacob Gordin (1853-1909) die Aufgabe, ein jiddisches E-Theater zu schaffen. Seine Stücke, darunter Der jiddische König Lear, kündigten das »goldene Zeitalter des jiddischen Theaters« an, und Kafka übernahm einige Geschichten für sein eigenes Werk.
Einige Schauspieler aus den klassischen jiddischen Filmen, von denen zahlreiche im Rahmenprogramm der Jüdischen Lebenswelten gezeigt werden, sind noch recht lebendig: In Ulmers 1940 gedrehten Amerikaner Schadkhen entdeckte ich kürzlich Ben Gailing, den ich vor einigen Wochen in New York als immerhin 95jährigen habe erleben dürfen. Mit seiner Version der amerikanischen Nationalhymne auf Jiddisch brachte er das Publikum zum Toben. Was mögen wir da erst am kommenden Sonntag im Maxim Gorki Theater von den vergleichsweise jungen Achtzigern Miriam Kressyn und Seymour Rexsite zu erwarten haben? Die Anwesenheit der beiden müßte alle Berliner Theater- und Filmforscher in helle Aufregung versetzen. Rosensträuße, Schnupftüchlein und Autogrammhefte sind mitzubringen: So was kommt nie wieder! Rita Ottens
Am Sonntag um 16 Uhr, Maxim Gorki Theater.
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