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Noch-Nicht und Nicht-Mehr

Krankheit der Jugend — Eine Uraufführung und zwei Premieren an den Freien Kammerspielen Magdeburg  ■ Von Meike Scheffel

Wer nicht leben kann, läßt sterben. „Stoij!“ stöhnt der Jungpionier, die Bonzenratte, der Pultkriecher und liquidiert mit einer Wehrmachtswaffe („deutsche Wertarbeit“) sein linientreues Elternhaus. „Wir haben gelebt/ falsch/ ein falsches Leben/ erinnern/ niemand wird sich erinnern“, frohlockt seine Mutter, bevor er ihren Hohn auspustet, seine Herkunft löscht und mit dem Gesicht zur Wand ein Kinderlied singt, rosarotes Krabbelstubengeträller: „Liebe liebe Sonne/ laß den Regen oben/ wir wollen dich auch loben.“ Aber von draußen nähert sich schon das grollende Donnerwetter der Zeitenwende. Christian MartinsAmok erwidert den langen Augenblick, in dem eine trügerische Ruhe sich zum Sturm auswächst. Und Hermann Schein, der das verstockte Stück an den Freien Kammerspielen Magdeburg zur Uraufführung bringt, läßt die kargen Worte, in denen das Verstummen zur Sprache kommt, wie vereinzelte Regentropfen ins Schweigen platzen: bis das Faß überläuft.

Krankheit der Jugend überschreibt die „Kammer“ in Magdeburg, das vielleicht lebhafteste Theater der neuen Bundesländer, ihr zweites Premieren-Spektakel dieser Spielzeit. Das Leiden, das Ferdinand Bruckners tollüstige Lemminge im sexuellen Exzeß zu Tode treibt, wird hier nicht als ultimative Diagnose, schon gar nicht mit therapeutischer Absicht formuliert. Doch die Symptome gleichen sich und geben so zu denken: In den zwanziger Jahren warten Ferdinand Bruckners Freud- Anhänger im Durchgangszimmer einer Wiener Pension auf eine Zukunft, zu der sie keinen Zutritt haben, während hinter ihnen die Geschichte ins Schloß fällt. In den 80er Jahren warten Nigel Williams' Faustrechthaber in einem Maschendrahtgehege auf einen Klassen Feind, der ihre Rundumschläge abfängt, während der verzweifelt gesuchte Gegner diese Stellung längst für verloren erklärt und das Schlachtfeld geräumt hat.

So bleibt die potentielle Lebensenergie, die vom Sexual- oder Agressionstrieb bewegt ist, ohne Anschluß und pervertiert zur zersetzenden Egomanie, zur Selbstzerstörungskraft. Der psychoanalytische Thriller (Regie: Axel Richter) und das Randale-Melodram (Regie: Jörg Richter) überführen individuelle Sado-Maso-Trips in einen gesellschaftlich motivierten Vernichtungsfeldzug der Opfer-Täter gegen die Täter- Opfer und umgekehrt: Die Kontrahenten sind identisch.

Die Ausweglosigkeit zwischen Schwarz und Weiß, Gewalt und Gewalt, Noch-Nicht und Nicht-Mehr verlautbart vor allem das leiseste der hier zusammengedachten Stücke, der vier Jahre alte „szenische Report“ des vogtländischen Autors und ehemaligen Lehrers Christian Martin. Das akute Anliegen, das Amok vertritt, seine tabubrechende Wahrheitsliebe, mag mittlerweile ebenso ins Leere greifen wie das Aufbegehren seiner Figuren: An der Selbstverbrennung eines Jugendpfarrers entzündet sich heute weder Unmut noch Zuversicht. Und minderjährige Neonazis und Nutten sind auch im Land der Freien Deutschen Jugend absolut vorstellbar und nicht mehr beweiskräftig.

Aber die Entgleisung eines planmäßig kursierenden Lebens, die der Autor wie einen rasanten Action- Film in Szene setzt, resultiert aus archetypischen Bedingungen. Martins marxverlassene Müllkippenkinder sind in eine Freiheit verstoßen, mit der ihre Zuchtmeister und Zaumhalter nicht gerechnet haben. Sie werden auf halbem Wege aus der Bahn geworfen, zu spät für eine Umkehr, zu früh für eine Umleitung. Das Programm im Kopf stürzt ab, die Vorbilder blenden sich aus, alle Wegweiser führen nun ins Abseits — und der Geschichtskurs „auf eigene Faust“, den die Fascho-Früchtchen Bomber und Fratz unternehmen, taugt nur für entschlossene Blindgänger. Hermann Schein, der wie die „Kammer“-Regisseure Axel Richter und Klaus Noack zuvor in Rostock gearbeitet hat, besetzte die Rollen der Jugendlichen mit Laien, 15jährigen Schülern eines Magdeburger Gymnasiums, deren authentisches Spiel den artifiziellen Anspruch der Aufführung verblüffenderweise nicht widerlegt. Ihre eckige, linkische Verlegenheit steht quer zu einer (möglichen) reißerischen Aufarbeitung des Stücks, die nur mit kaltblütiger Professionalität und Perfektion durchzupeitschen wäre. Beim anschließenden Publikumsgespräch artikuliert einer der Laiendarsteller sein Unbehagen gegenüber der extrem verknappten Sprache Martins, das Erschrecken jedes Mal, „wenn wieder ein Wort zu Ende war“. Tatsächlich liegt die Qualität dieser Uraufführung darin, daß sie den Abgrund zwischen den Wörtern eröffnet, daß jeder, der spricht, steigt, um zu stürzen. Schein drosselt das Tempo, er zerklüftet den Text. Eine Klippenlandschaft. In den Tälern: eine raumgreifende Stille, unterfüttert mit dem Wunsch, ihr zu entkommen.

Der Ausstatter Stefan Heyne läßt auf einer schrägen Ebene spielen, in einer auf der Kippe stehenden Welt, zwischen raschelndem Papiermüll, in dem auch mal die Fetzen fliegen. Meist aber bewegen sich die Spieler im spannungsgeladenen Abstand umeinander herum, sie schleichen sich an, beschatten und belauern einander. Was aus dieser brenzligen Atmosphäre wie eine Stichflamme emporschießt, ist immer auch versuchte Berührung, mißglückte Umarmung. Selbst die Maulkorb-, Zwangsjacken- und Schwitzkastenüberfälle der Erwachsenen verraten mit dem Klammergriff noch das verlernte Streicheln.

Thomas Dehler spielt den Vater (Staat), der weiterfunktioniert, obwohl bei ihm längst die Schrauben locker sind; einen Polizisten, der beim Verhör systematisch, Schluck um Schluck um Schluck, seinen Kaffee und den Widerstand des Delinquenten ausschlürft und abschöpft; und einen Seelsorger, der Trost spendet, als schreite er zur letzten Lösung, als sei sein Segen ein Fluch. Alle drei Figuren sind furchterregend in ihrer Verflechtung von Wahnsinn und Methode. Doch werden sie nicht gerichtet und nicht verworfen.

Kennzeichnend für die Theater- Arbeit der Freien Kammerspiele Magdeburg ist die Lust am Aufbruch im doppelten Sinne. Widersprüche und Fragwürdigkeiten werden nicht beschwichtigt, Hirnrisse und Herzschwächen nicht kuriert. Die Krankheit der Jugend, wie sie in Magdeburg zu untersuchen ist, offenbart den Leidensdruck einer Gesellschaft, die am deutschen Wesen nicht genesen kann — sie entkräftet das gesunde Volksempfinden und schreckt den Puls der Zeit aus seinem Gleichtakt.

Ferdinand Bruckner: Krankheit der Jugend. Regie: Axel Richter, Bühne: Klaus Noack. Mit Franziska Ritter, Michaela Winterstein, Susanne Bard, Kirstin Giertler, Michael Günther, Jörg Dathe und Mirko Zschocke. Nächste Aufführungen: 8. und 21.Februar.

Christian Martin: Amok. Regie: Hermann Schein, Bühne: Stefan Heyne. Mit Sebastian Auersch, Anja Köhler/Maja Köhler, Nico Michalsky, Christian Natzke, Franziska Kleinert und Thomas Dehler. Nächste Aufführungen: 12., 19. und 25.Februar.

Nigel Williams: Klassen Feind. Regie: Jörg Richter, Austattung: Karina Alisch. Mit Andreas Hermann, Hans Schernthaner, Sven Seeburg, Eckhard Doblies, Andreas Manz, Stephan Dierichs, Gerda Haase. Nächste Aufführungen: 13. und 18.Februar.

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