: Unterwelt in uns allen
■ Theater mit Behinderten und Nichtbehinderten
Der Mann kauert sich auf der Bühne zusammen, umschließt seine Beine mit den Armen, jault. »Kein Schwein schreit nach mir. Mir nach! Schrei nach mir, Schwein, deinen Schrei!« Seine Augen sind leer, fixieren unvermittelt einen Punkt im Zuschauerraum, brechen den Kontakt ab. Der Mann spielt Orpheus, den griechischen Sänger. Orpheus das Muttersöhnchen. Einer, der sich noch als Erwachsener im Schoß seiner Mutter vergräbt und das Liebe nennt. Der Schauspsieler Torsten Holzapfel hat seine Kindheit in einer psychiatrischen Anstalt verbracht. Heute arbeitet er als Anstreicher, abends spielt er mit der Gruppe »Thikwá« Theater. Thikwá bedeutet im Hebräischen Knoten und Lösung, der Name ist Programm. Seit zwei Jahren spielen hier geistig und körperlich behinderte Laienschauspieler mit nicht-behinderten Profis. Als die Berliner Autorin Gisela Zies das erste Mal die Proben zum neuen Orpheus-Stück besucht, bricht sie in Tränen aus. Sie erlebt, wie eine alte Frau auf der Bühne mit ihrem Stuhl verwächst, die Hände ins Leere streckt, in Zuckungen ausbricht; wie ein junger Mann im Rollstuhl furztrocken Witze reißt. Gisela Zies ist der normale Umgang mit Behinderten noch fremd. »Als ich die Zerstörung dieser Menschen sah, mußte ich einfach heulen«, erklärt sie. »Dann kam die Abscheu. Ich widerte mich. Schließlich wich der Ekel dem Staunen, der Freude über das, was Theater gutmachen kann.« Zur nächsten Probe bringt die Autorin kleine Textproben mit. Die Schauspieler sind hellauf begeistert, rangeln um die losen Blätter. Jeder will einen Namen haben, Lichterloh, Hypnos oder Eurydike sein. Erst viel später entsteht die Rahmenerzählung, wird aus dem Orpheus-Mythos Thikwás Stück.
Das Theater, das diese Gruppe macht, ist umstritten. Manchen ist es nur therapeutischer Zweck, anderen lebendige Schönheit. Im Idealfall soll »niemand die Staffage für den anderen sein«, sagt Christina Vogt, Kunsttherapeutin und Leiterin von »Thikwá«. Alle Schauspieler müssen sich im Zusammenspiel entfalten können. »Wenn ich auf der Bühne stehe«, erzählt Martina Nitz, »bin ich viel freier als sonst. Ich kann dann zeigen, was in mir steckt, und was die Leute noch nicht von mir kennen.« Martina sitzt im Rollstuhl. In Orpheus spielt sie dessen Geliebte Eurydike. Ihr größter Wunsch war es, auf der Bühne laufen zu dürfen. Gestützt von zwei Schauspielern wagt sie, Schritt für Schritt, den Gang aus der Unterwelt. Im Schattenriß erscheint immer noch der Rollstuhl, auf ihn heftet Orpheus seinen Blick. Als er es nicht mehr ertragen kann, dreht er sich um. Sieht für eine Sekunde, wie Euridike steht, — dann sinkt sie leblos auf den Boden.
»Theater muß authentisch sein«, sagt Christine Vogt, »sonst kotzt es mich an.« Sie mag die Inbrunst, die Ehrlichkeit ihrer Schauspieler, gerade weil bei den behinderten Darstellern die Grenze von Wirklichkeit und Spiel nicht immer gezogen werden kann. Seit 1984 macht die junge Regisseurin im Jugendwerkheim Zehlendorf mit Behinderten Theater. Fünf Jahre später hat sie mit Freunden »Thikwá« gegründet. Das Bundesministerium für Familie und Senioren unterstützt mittlerweile ihre Arbeit im Verein mit dem Diakonischen Werk in Berlin. Der Rest sind Spenden.
Orpheus ist — nach einer Kaspar- Hauser-Inszenierung — das zweite große Stück der Gruppe. Wer es genießen will, muß aufhören, beim Zuschauen nach den Krankheiten der Behinderten zu forschen. Orpheus ist als Ganzes schön, mit all seinen Skurrilitäten, Peinlichkeiten und Pannen. Die Behinderten wissen den Freiraum, den ihnen das Stück gewährt, sehr wohl zu füllen. Zum Beispiel Anke Schmidt. Wie ein Derwisch tobt sie als Wesen aus der Unterwelt auf der Bühne herum: gruselig und mit blau unterlaufenen Lippen, wild. Weil Anke ihren Text nicht auswendiglernen kann, improvisiert sie. Manchmal werden die Zuschauer unruhig, weil Anke undeutlich und zusammenhangslos spricht. »Es ist toll, es ist toll — es ist schon schwer«, sagt sie, während sie noch am Ufer des Styx ihre Kreise dreht. Wieder versucht sie einen Satz, beendet den vorhergehenden, schweift ab. Irgendwann klärt sich ihre Stimme: »Die Unterwelt ist in ums allen. Rache, Liebe, Kinderkriegen.« Mirjam Schaub
Im Kunsthaus Tacheles, Oranienburger Straße 52-56, 1040 Berlin, 5. bis 8.3. 20 Uhr, ab 20.3. um 19 Uhr im Club Gérard Philippe, Karl-Kunger-Straße 29
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen