: Berg-Karabach ohne GUS-Truppen
■ Angst der Bevölkerung vor wachsender Grausamkeit der armenisch-aserbaidschanischen Kämpfe/ Widersprüchliche Darstellungen über Ausmaß des Massakers von Chodschali/ GUS-Abzug kritisiert
Moskau/Agdam (wps/taz) — Nachdem am Dienstag die letzten Soldaten der ehemaligen Sowjetarmee aus Berg-Karabach ausgeflogen wurden, muß die Bevölkerung der Region eine weitere Brutalisierung der Kämpfe befürchten. Der Zorn über das Massaker in dem Ort Chodschali, wo armenische Soldaten aserbaidschanischen Berichten zufolge 1.000 Menschen ermordeten, wächst. Daher habe das Kommando des kaukasischen Wehrbezirks gestern angeordnet, auch die Schützenpanzer und sonstige Militärtechnik mit schweren Transporthubschraubern nach Georgien auszufliegen. Damit soll vermieden werden, daß sie in die Hände der armenischen und aserbaidschanischen Kriegsparteien fallen, meldet die amtliche Moskauer Nachrichtenagentur 'Itar- Tass‘.
Armenien rechtfertigt Massaker
Unklar ist bislang, was tatsächlich in Chodschali geschah. Denn die Berichte der Kriegsgegner widersprechen sich bislang fast bis in jedes Detail, sogar was die Größe des überwiegend von AserbaidschanerInnen bewohnten Ortes in der Enklave betrifft. Es war ein kleines Straßendorf, sagen die Armenier; eine Stadt von 10.000 Einwohnern, heißt es in Aserbaidschan. Armenien erklärt die Berichte über 1.000 Tote für „übertrieben“ und spricht von „weniger als 100“ Opfern. Unabhängige Beobachter schätzen die Zahl der Todesopfer auf etwa 400.
Fernsehbilder am Dienstag zeigten Dutzende von Toten, einschließlich Frauen und Kindern, die im umliegenden Bergland außerhalb Chodschalis verstreut lagen. Aserbaidschanische Männer mit umgehängten Kalaschnikows weinten, als sie die Toten bargen, die zum Teil verstümmelt worden waren.
Wenige Kilometer entfernt, im aserbaidschanischen Agdam, haben die Behörden nach Informationen westlicher Nachrichtenagenturen erklärt, sie hätten die Leichen von 136 Menschen beerdigt, die getötet wurden, als sie vor der armenischen Offensive auf Chodschali flohen. Sie seien von armenischen Truppen daran gehindert worden, weitere Tote aufzusammeln.
Die armenische Regierung rechtfertigte den Angriff auf das „Banditennest“ Chodschali mit dem Hinweis auf die strategische Bedeutung der Stadt. Der Vertreter Armeniens in Moskau, Robert Arakilow, sagte, der Angriff sei notwendig gewesen, um die Aserbaidschaner von einem Überfall auf Stepanakert abzuhalten.
Beobachter fürchten, das Geschehen in Chodschali sei der Beginn einer neuen Phase in den Auseindersetzungen um Berg-Karabach, bei denen seit ihrem Beginn vor vier Jahren über 1.000 Menschen ihr Leben verloren hatten. Den iranischen Bemühungen um einen Waffenstillstand zum Trotz bewirkte am Dienstag abend der Abschuß eines Hubschraubers eine weitere Verschärfung des Konflikts.
Nach offiziellen Angaben aus Berg-Karabach kamen bei dem Abschuß durch einen aserbaidschanischen Hubschrauber 30 Menschen, zumeist armenische Frauen und Kinder, ums Leben.
Die armenische und die aserbaidschanische Regierung haben den jetzt der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) unterstehenden Truppen vorgeworfen, jeweils auf seiten des Gegners in den Konflikt um Berg-Karabach einzugreifen. Viele Armenier in der Region haben die Soldaten allerdings als Schutz vor aserbaidschanischen Angriffen betrachtet. Der armenische Präsident Lewon Ter-Petrosjan kritisierte daher den Abzug des Regiments.
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