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Staranwalt Bossi: Mordanklage „gewissenlos“

■ Verteidigung im Dresdner Prozeß gegen zwei Zuhälter: Angeklagte befürchteten rechtsradikale Lynchjustiz

„Das gibt's ja nicht mal in Moabit bei Mielke“, fluchte ein Kameramann. Zum fünften Mal mußte er sich nun am Eingang zum Dresdener Justizpalast elektronisch durchchecken lassen. Rechte Randale wurde zum Beginn der Hauptverhandlung gegen die des „gemeinschaftlichen Mordes“ an dem Dresdener Neonazi-Führer Rainer Sonntag angeklagten Zuhälter Nikolas Simeonidis (24) und Ronny Matz (25) befürchtet. Doch unter dem zahlreichen Publikum befand sich nur ein kleines Trüppchen Rechter. Nicht eine einzige Glatze hatte Lust, sich von der internationalen Presse ablichten zu lassen.

Kaum hatte der Vorsitzende Richter Matthias Wetz das Verfahren eröffnet, lehnte der Münchner Staranwalt Rolf Bossi als Verteidiger von Nikolas Simeonidis den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab, weil dieser eine Anklage zugelassen habe, die „verantwortungs- und gewissenlos“ sei. Mit der Mordanklage habe Oberstaatsanwalt Hans Heck nicht nur „erschreckende Inkompetenz im juristischen Bereich“ erkennen lassen, sondern auch „schwerwiegende Pflichtwidrigkeiten“ begangen, die „an den Straftatbestand der Verfolgung eines Unschuldigen grenzen“. Indem es die Anklage vom 27.November 1991 unverändert zuließ, habe das Bezirksgericht die „Übung“ der bundesdeutschen Justiz übernommen, Rechtsradikalismus als Rechtschaffenheit anzusehen und Ausländer zu „kriegführenden Verbrechern“ zu stempeln.

Simeonidis und Matz sollen „in Verfolgung eines Tatplanes, gegen Rechtsradikale in Dresden Krieg zu führen“, am 31.Mai 1991 gegen 23.50 Uhr vor das Kino Faunpalast gefahren sein. Dort, so die Anklage, haben sie Sonntag mit einer Schrotflinte „aus Haß und Rache“ getötet. Der Verteidiger von Ronny Matz, der Bonner Anwalt Ernst Johann, stimmte Bossis Antrag „im wesentlichen“ zu. Bossi zeigte sich sehr erstaunt über die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft. Aussagen von Zeugen würden den Sachverhalt nämlich als Notwehr darstellen. Die Angeklagten hätten sich vor einer Lynchjustiz der versammelten Rechtsradikalen schützen müssen. Beide Angeschuldigte hätten sich mit Angelegenheiten ihres kurz zuvor von der Stadt genehmigten Bordells befaßt und „waren weit davon entfernt, sich mit irgendwelchen Neonazis anzulegen“ oder den in der Anklage unterstellten „Krieg“ zu führen. Im Gegensatz dazu habe Sonntag mit seiner Schlägertruppe, die „als kriminelle Vereinigung“ anzusehen sei, „stundenlang“ eine Gewalttat gegen das Sex-Center vorbereitet.

Davor hätten die beiden Zuhälter aus „Todesangst“ fliehen wollen. Als Simeonidis bemerkte, daß 50 bewaffnete Neonazis auf der einen, sieben auf der anderen Seite der Straße und dazwischen Sonntag mit Gefolge auf seinen Sex-Laden zugekommen seien, sei er mit dem Gewehr auf die Straße getreten, „um durch Drohbewegungen die Menge so weit zu vertreiben, daß sich ein Fluchtweg öffnen sollte“. Doch Sonntag sei auf ihn zugegangen und habe mehrfach geschrien: Schieß doch, du Feigling!“ Dann, so Bossi, habe Simeonidis versucht, rückwärts gehend zum Auto zu gelangen. Sonntag sei ihm wieder gefolgt. Als die beiden Zuhälter merkten, daß sie „der Lynchjusitz ausgeliefert sein würden“, versprühte Matz Tränengas, und Simeonidis „schlug auf den vor ihm stehenden Sonntag ein“. Auf welche Weise sich dabei ein Schuß gelöst habe, könne Simeonidis nicht mehr sagen.

Bossis Nachfragen bei der Dresdner Staatsanwaltschaft, ob gegen die Sonntag-Truppe ein Ermittlungsverfahren anhängig sei, blieb ohne Antwort. Nach Auffassung des Verteidigers könne eine politische Motivation, wie sie die Anklage unterstellt, nur bei Sonntag und dessen Umfeld ausgemacht werden. Für Bossi kommt, wenn nicht Notwehr, „unter Umständen“ fahrlässige Tötung in Betracht, schlimmstenfalls ein minderschwerer Fall von Totschlag, wobei nach der Schuldfähigkeit der Angeklagten zu fragen wäre, die damals stundenlang unter Todesangst gestanden hätten. Richter Wetz sah in diesen Einlassungen keine hinreichende Begründung für einen Befangenheitsantrag, sondern einen Vorgriff auf die Verhandlung, die auf acht Tage festgesetzt wurde. Detlef Krell

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