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Abnehmender Mond

Das Werkverzeichnis van Goghs wird revidiert  ■ Von Stefan Koldehoff

Mit Rembrandt sind die Niederländer so gut wie fertig: Noch bis Mai zeigt eine große Übersichtsschau, nach Berlin noch in Amsterdam und London, was das seit 1969 arbeitende „Rembrandt Research Project“ von ihm übriggelassen hat. Das einst auf bis zu 744 Bilder geschätzte Oeuvre des Urvaters der modernen Malerei ist auf die vergleichsweise mickrige Zahl von heute noch etwa 250 Gemälden zusammengeschrumpft. Den spektakulärsten Verlust erlitt dabei die Berliner Gemäldegalerie. Ausgerechnet ihr Mann mit dem Goldhelm, als Inbegriff des Rembrandt-Gemäldes schlechthin zugleich das Flaggschiff deutscher Wohnzimmerkultur, wurde zum Werk eines Schülers degradiert und aus dem Werkkatalog verbannt. Wissenschaft kann grausam sein.

Nach Rembrandt haben sich die niederländischen Kunsthistoriker jetzt den zweiten großen Maler des kleinen Staates vorgeknöpft. Vor etwa zwei Jahren begann, ebenfalls in Amsterdam, das „Van Gogh Research Project“ mit seiner Arbeit, um festzustellen, was künftig noch zum ×uvre jenes Malers gerechnet werden kann, den erst vor wenigen Monaten eine Umfrage der Zeitschrift 'Pan‘ als den von den Deutschen am meisten geschätzten Künstler gekürt hatte. Im Rijksmuseum Vincent van Gogh überarbeiten seither die Wissenschaftler Han van Crimpen, Louis van Tilborgh und Sjraar van Heugten gemeinsam mit der Restauratorin Cornelia Peres das etwa 800 Gemälde und 1.300 Zeichnungen umfassende Gesamtwerk des Frühvollendeten. Ein spektakuläres Ergebnis hatte ihre Arbeit bereits: Am 26. Juli 1990 zog das renommierte Auktionshaus Sotheby's kurzfristig das auf zwei bis drei Millionen Pfund taxierte Van-Gogh-Gemälde L'Escalier à Auvers vom Verkauf zurück. Den Londoner Kunsthändlern waren stilistische Zweifel an der Authentizität des auf den Tag genau sechs Jahre zuvor von einem japanischen Privatsammler für 473.000 Pfund erworbenen Bildes gekommen, obwohl sich seine Provenienz bis 1925 lückenlos zurückverfolgen ließ.

„Verschiedene Van-Gogh-Experten haben vor kurzem begonnen, sein Werk noch einmal zu untersuchen“, lautete die offizielle Begründung für den aufsehenerregenden Schritt. „Wir gehen davon aus, daß dieses Bild zur Gruppe jener Werke gehört, deren traditionelle Zuschreibung an van Gogh in Frage gestellt werden könnte.“ Das Londoner Kunstorakel hatte wahr gesprochen: „Zeitgenössische Kopie“ lautete das Urteil aus Amsterdam. Ausschlaggebend für den Schiedsspruch, der aus einem bis dahin anerkannten Werk des teuersten Malers aller Zeiten eine zumindest materiell nahezu wertlose Nachschöpfung machte, waren vor allem die stilkritischen Untersuchungen im Amsterdamer Museum gewesen. „Das Bild hatte wenig oder gar nichts mit van Gogh zu tun“, erläutert Sjraar van Heugten die Entscheidung der niederländischen Gralshüter. „Ich glaube nicht, daß es eine Fälschung ist. Bei dem Bild handelt es sich wohl eher um die Nachschöpfung eines Malers, der sich das Original gut angesehen und dann danach eine Farbskizze angefertigt hat.“

Zweiundsechzig Jahre lang war auf diese Idee niemand gekommen, obwohl das hektisch auf die Leinwand geschmierte Bild mit unscharfen Konturen und undeutlichen Farbabgrenzungen so gar nicht der bekannten van Goghschen Malweise entspricht. Im ersten und bis heute gültigen Werkverzeichnis, das der niederländische Jurist Jacob-Baart de la Faille 1928 nur 38 Jahre nach dem Tod des Malers in einer vergleichsweise bescheidenen Auflage von 650 Exemplaren veröffentlichte, war auch die Treppe in Auvers unter der Nummer 796 als authentisch verzeichnet. Gesehen allerdings hatte de la Faille, Doktor der Rechte an der Universität von Utrecht, dieses Gemälde wie viele andere vor der Aufnahme wahrscheinlich nicht. Es befand sich zum Zeitpunkt der Katalogerstellung schon in einer Kopenhagener Privatsammlung. Weil van Goghs Schwägerin Johanna einen großen Teil seines Werkes schon früh in alle Welt verkauft hatte, mußte de la Faille sich — wie die Bearbeiter der 1970 erschienenen Neuauflage seines Catalogue raisonné — nicht selten auf Schwarzweißaufnahmen der zu begutachtenden Werke verlassen.

Vor ähnlichen Problemen steht heute das Van Gogh Research Project. Durch den Van-Gogh-Boom der Nachkriegszeit sind seine Gemälde und Zeichnungen heute verstreuter denn je. Allein 1991 wechselten rund 50 von ihnen den Besitzer. Etwa 200 Gemälde und 560 Zeichnungen hütet heute das Van- Gogh-Museum selbst, im Kröller- Müller-Museum in Otterlo werden noch einmal rund 90 Gemälde und 175 Zeichnungen aufbewahrt. Das Werkeverzeichnis aber listet insgesamt 2.127 Werke auf, von denen sich also der größere Teil außerhalb der Niederlande und nicht selten durch Privatbesitz auch nahezu unzugänglich befindet. „Das beste wäre, wenn wir ganze Werkgruppen gleichzeitig nebeneinander im Original ansehen könnten“, beschreibt Sjraar van Heugten die optimale Arbeitsweise der Fälschungsforscher. „So könnten wir verwandte Stilmerkmale finden und Unterschiede in Pinselduktus und Farbauftrag finden.“ Weil diese Zusammenkunft ganzer Werkkomplexe in der Regel aber nicht möglich ist, reisen er und seine Kollegen von Sammlung zu Sammlung und von Stilleben zu Stilleben oder holen die zu begutachtenden Bilder einzeln nach Amsterdam: „Hier haben wir gesicherte Werke aus unserer eigenen Sammlung als Vergleichsmöglichkeit zur Verfügung.“ In Amsterdam werden Gemälde — Zeichnungen sollen später folgen — auf Motivwahl und -gestaltung, Farbgebung und Pinselführung hin untersucht. Naturwissenschaftliche Materialuntersuchungen können manchmal Aufschluß über das Alter und die Entstehungsweise der Werke geben. Aufschlußreich kann sogar die Größe der bemalten Leinwand sein. Weil van Gogh von seinem Bruder Theo gerade in den letzten Jahren seines Lebens überwiegend fertig vorbereitete französische Standardmaßleinwände geschickt bekam, fallen ungewöhnliche Bildgrößen sofort auf.

Gegenstand der stil- und materialkritischen Untersuchungen sind aber keineswegs allein die schwer zugänglichen Gemälde in Privatbesitz. Im Gegenteil: auch in einigen der renommiertesten Museen der Welt hängen Werke des Niederländers, über deren Authentizität sich die Experten schon seit längerer Zeit streiten. Die Urheberschaft van Goghs stellte 1990 der Zürcher Kunsthändler und Van-Gogh-Spezialist Walter Feilchenfeldt bei einem Symposium in Amsterdam für das berühmte Selbstportrait mit Strohhut im New Yorker Metropolitan Museum of Art in Frage. Sein Kollege, der Organisator der großen Van-Gogh-Retrospektiven 1984 und 1986/87 in eben diesem Haus, Ronald Pickvance, hält eine der vielen Sämann-Varianten im Armand Hammer Museum of Art in Los Angeles für falsch. Zweifel haben einige Fachleute auch an Kornfeldern im Nationaal Museum von Stockholm und in früherem Besitz der Phillips Collection in Washington, an Kühen im Musée des Beaux Arts und Kornhalmen im Jerusalemer Israel Museum geäußert.

Und selbst der heiligste Tempel der Van-Gogh-Verehrung, das Amsterdamer Rijksmuseum Vincent van Gogh, blieb nicht verschont: Auch eine Stadtansicht von Amsterdam (1885), ein Frauenportrait von 1887 und eine Version der Steinbrüche aus Saint Rémy waren in Ungnade gefallen. Eine Fassung des berühmten Irrenhausgartens mit Bank aus Amsterdamer Besitz hielt der Direktor des Museo de Arte de Sao Paulo für eine Kopie von fremder Hand nach einem Original, das sich heute im Besitz des Essener Folkwang-Museums befindet.

Über all diese Spekulationen und Beurteilungen aus kompetentem und inkompetentem Mund hüllen sich die MitarbeiterInnen des Van Gogh Research Projects derzeit noch offiziell in eisernes Schweigen. „Ich halte unsere eigene Amsterdam-Ansicht und vielleicht auch das Frauenportrait ebenfalls für zweifelhaft“, gibt Sjraar van Heugten einen Teil seiner Privatmeinung preis. „Und ich würde mir sehr gern auch die genannten Bilder in Stockholm und Jerusalem einmal sehr genau ansehen. Das New Yorker Selbstbildnis und der Irrenhausgarten stehen aber sicher außer Zweifel.“

Einen Freispruch bekam inzwischen auch der für van Goghs Werk ungewöhnliche Säer aus der Hammer Collection. Bei seiner positiven Bewertung spielten auch unkonventionelle Überlegungen eine Rolle: „Wenn jemand einen van Gogh fälschen wollte“, begründet van Heugten, „würde er das nicht so untypisch machen und auf die Signatur verzichten. Das Bild paßt in eine Reihe von Farbenexperimenten van Goghs.“

Während die Untersuchungsmethoden bei Rembrandt und van Gogh nahezu dieselben sind, zeichnet sich bereits jetzt ab, daß sich die Arbeitsergebnisse der beiden Research Projects erheblich voneinander unterscheiden werden. Nachdem mittlerweile Hunderte Van-Gogh-Gemälde untersucht wurden, steht fest, daß sich das gewohnte Bild von seinem ×uvre nicht so grundlegend ändern müssen wird, wie dies bei Rembrandt der Fall war. „Der weitaus größte Teil der ihm zugeschriebenen Werke stammt tatsächlich von Vincent van Gogh“, resümiert Sjraar van Heugten die bislang zweijährige Arbeit. „Mich würde wundern, wenn wir Werke wie etwa die Sternennacht ausschließen müßten. Es wird aber gerade unter den zur Zeit untersuchten Blumenstilleben der Pariser Zeit, über die es kaum Briefe van Goghs gibt, eine erhebliche Zahl von Neudatierungen geben müssen.“

Rund vierzig öffentliche und private KunstsammlerInnen werden in den kommenden Monaten trotzdem die Hiobsbotschaft der Nichtauthentizität aus Amsterdam akzeptieren müssen. Auf diese Zahl, bescheidene zwei Prozent des Gesamtwerks, schätzt man in Amsterdam die Gesamthöhe der Werke, die nach Abschluß aller Untersuchungen nicht mehr als echte van Goghs akzeptiert werden können.

Welche Bilder bereits aus dem neuen Catalogue raisonné herausgeflogen sind, mag man in Amsterdam offiziell noch nicht verraten. Einzig das von der Auktion zurückgezogene Treppenbild trägt den Falsifikatstempel schon höchst amtlich. „Über die Aberkennung der Echtheit reden wir zunächst einmal mit den betroffenenen Museen und Privatsammlern“, entschuldigt Sjraar van Heugten die bescheidene Zurückhaltung diplomatisch. „Die Öffentlichkeit wird davon erfahren, wenn der neue ×uvrekatalog vorliegt.“ Das allerdings wird noch dauern: An eine Veröffentlichung in Buchform ist frühestens in zehn Jahren gedacht.

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