GASTKOMMENTAR: Teufelskreis
■ Nach dem Massaker in Karabach ist nun eine ständige Friedensmission gefragt
Aserbaidschanische Quellen sprechen von über tausend Toten, armenische Sprecher von unter hundert. Was wirklich im Wald bei Chodschalu nach der Eroberung der aserbaidschanischen Siedlung durch armenische Kämpfer geschah, bleibt unklar. Die Toten wurden schnell begraben, eine internationale Untersuchungskommission, die viel zur Objektivierung hätte beitragen können, nicht einberufen. Dadurch gerieten die Opfer von Chodschalu zum Gegenstand der Propaganda wie auch der Bagatellisierungsversuche. War es Zufall, daß das Massaker von Chodschalu beinahe auf den Jahrestag des Armenierpogroms von Sumgait von 1988 fiel, der in der Erinnerung der Armenier als Pogrom fortlebt? Auch damals wurde nur ungenau ermittelt, blieben die politisch Verantwortlichen verschont.
Längst hat sich der Karabach-Konflikt zum Völkerkrieg ausgeweitet. Im Februar 1991 setzten aserbaidschanische Omon-Einheiten in Karabach die Deportation von 27 armenischen Dörfern durch. Einen weiteren Meilenstein bei der Konfliktverschärfung bildete die Aufhebung der — damals freilich schon fiktiven — Autonomie Karabachs durch das aserbaidschanische Parlament im November 1991. Seitdem herrscht Krieg.
Aus armenischer Sicht handelt es sich um die Selbstverteidigung der Armenier Karabachs, um einen nationalen Befreiungskampf gegen die Vorherrschaft Aserbaidschans, das seinerseits dieses Aufbegehren als armenische Aggression empfindet. Den alten Territorialanspruch auf Karabach hat die Regierung der seit 1991 unabhängigen Republik längst fallengelassen und dies mit ihrer Beitrittserklärung zur GUS indirekt bekräftigt. Die Toten von Chodschalu rücken den Krieg nun erneut an die Grenzen Armeniens, trotz aller Bemühungen des armenischen Präsidenten, zwischen Neutralität und nationaler Solidarität mit den Landsleuten in Karabach zu manövrieren. Zugleich wächst das Vergeltungsdenken. Seine ersten Opfer waren armenische Frauen und Kinder, die per Hubschrauber aus Karabach evakuiert werden sollten. Armenische Tränen schmecken genauso bitter wie aserbaidschanische. Unter den Bedingungen nationaler Leidenschaften findet diese Binsenweisheit freilich immer weniger Gehör, ebensowenig wie die Einsicht, daß der Karabach-Konflikt im Interesse der dort lebenden Menschen aller Volksgruppen nur politisch lösbar ist. Da inwischen zu viele Tote zwischen Armeniern und Aserbaidschanern stehen, gelingt es ihnen nicht, aus eigenen Kräften aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt auszusteigen. Um so dringlicher ist die internationale Öffentlichkeit gefordert. Es müßten allerdings nicht nur prominente Politiker sein, die sich für wenige Stunden in das Krisengebiet einfliegen lassen. Gefragt sind jetzt ständige Friedensmissionen mit erfahrenen Menschenrechtlern, die auch dann noch bei den Opfern bleiben, wenn die Fernseh- und Pressekameras ausgeschaltet sind. Tessa Hofmann
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