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Über 200 Bergleute lebendig begraben

■ Die türkische Regierung läßt die staatseigenen Kohleminen absichtlich verkommen, um sie als unrentabel schließen zu können/ Bisher 138 Tote in Kozlu geborgen, Rettungsarbeiten erfolglos

Berlin (taz/afp) — Noch weiß niemand, wie viele Kumpel tatsächlich in der Kohlengrube Kozlu gestorben sind, doch das wissen alle: Für die noch vermißten 250 Bergleute besteht kaum eine Überlebenschance. Die Rettungsarbeiten in den Stollen sind extrem schwierig, weil durch die Explosion in den Schächten in mehr als 300 Metern Tiefe fast überall Feuer ausgebrochen waren. Nachdem sich am Dienstag abend die Kumpel aus den höher gelegenen Schächten mit Mühe hatten retten können, waren die Rettungsmannschaften fast nur noch auf Leichen gestoßen — bis Donnerstag morgen nach Angaben der Gewerkschaft 138. 38 gerettete Bergleute liegen zum Teil schwerverletzt in den Krankenhäusern der Umgebung. An die noch eingeschlossenen kommen die Bergungsmannschaften jedoch nicht heran — schon deshalb nicht, weil die Zugangsmöglichkeiten in dem völlig veralteten Bergwerk denkbar schlecht sind.

Die Angehörigen, die übertage am Förderturm auf Neuigkeiten warten, zeigen vor den Kameras und Mikrophonen der Reporter vor Ort neben tiefer Verzweiflung auch die ohmächtige Wut gegenüber den Verantwortlichen für die Katastrophe. Der Tenor ist eindeutig: Die Regierung hat unsere Männer auf dem Gewissen, die wissen schon lange, wie gefährlich die Grube ist. „Hier ist seit 20 Jahren nichts mehr investiert worden, in die Sicherheitsvorkehrungen erst recht nicht“, empört sich ein Vertreter der Minenarbeitergewerkschaft.

Tatsächlich weist die Statistik für Kozlu reine Horrorzahlen aus. Die Grube gehört zu dem Bergwerkskomplex Zonguldak, der größten Kohlenmine in der Türkei. Erst 1983 wurden hier 123 Kumpel nach einer ähnlichen Explosion wie der in dieser Woche lebendig begraben. 20 Tote und 6.474 Verletzte bei Arbeitsunfällen registrierte die Statistik für das Jahr 1989. 1990 starben 25 Männer und 5.600 wurden verletzt. In einer etwa 100 Kilometer östlich gelegenen Mine in Yeniceltik waren 1990 bei einem Schlagwetterunglück 68 Menschen tödlich verunglückt. Die in Genf ansässige „International Labor Organization“ ließ damals eine Expertise zur Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen ausarbeiten, die immer noch in Genf in der Schublade liegt. Keiner wollte die Kosten für die Realisierung tragen.

Die Unglückszahlen sind nicht nur nach den ILO-Erkenntnissen kein Zufall. Das Bergwerk in Zonguldak ist uralt und mittlerweile sicherheitstechnisch völlig veraltet. Seit 161 Jahren wird in Zonguldak Kohle gefördert. Seit den 70er Jahren wird das Revier sträflich vernachlässigt. Die Regierungen in Ankara setzten eher auf den Import von Billigkohle als den Ausbau der eigenen Förderung und versuchte gleichzeitig, die staatlichen Bergwerke zu privatisieren. Seit Mitte der 80er Jahre arbeiten die Kohlengruben bei Zonguldak mit kontinuierlichem Defizit. Die Produktivität ist aufgrund der völlig veralteten Förderungsmethoden auf einen Tiefststand gesunken: Rund 300 Kilo schafft ein Kumpel am Schwarzen Meer im Schnitt, in Europa sind es rund 3.000 Kilo pro Arbeiter.

Die Kumpel in Zonguldak wissen natürlich, daß sie im Vergleich zum Weltmarkt immer mehr ins Hintertreffen geraten und haben mehrfach versucht, etwas dagegen zu unternehmen, zuletzt in einem großen Streik vom November 1990 bis Februar 1991. Die Kumpel aus dem Kohlerevier gehören zur Arbeiterelite der Türkei. Der Organisationsgrad liegt bei knapp 100 Prozent, und die Männer sind stolz auf ihre Arbeit. Durch den viermonatigen Streik wurde der Vorsitzende der Minenarbeitergewerkschaft, Semsi Denizer, zu einem der populärsten Gegenspieler des Staatspräsidenten Özal, der zu der Zeit praktisch auch Regierungschef war. Der 39jährige Gewerkschaftsführer agierte weit wirksamer als die zerstrittene Opposition in Ankara. Als er nach dreimonatigem Streik gefragt wurde, ob dies eher ein ökonomischer oder ein politischer Streik sei, antwortete Denizer knapp: „Wir wollen Özals Kopf.“ In realistischer Einschätzung der Lage wußte die Gewerkschaftsführung, daß sie mit Özal, der die Bergwerke am liebsten gleich stillgelegt hätte, zu keinem Kompromiß kommen konnte. Kurzerhand erklärte sich Denizer deshalb zur Speerspitze der Opposition und erklärte: „Wir kämpfen nicht nur für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, wir kämpfen für die Demokratie.“ Im Januar 1991 startete Denizer dann seinen Marsch auf Ankara, der den Anfang vom Ende der Ära Özal einleitete. Fast die gesamte Einwohnerschaft von Zonguldak machte sich in den Januartagen 91 bei etlichen Minusgraden auf den Fußmarsch nach Ankara. Der Marsch wurde zu einer Manifestation gegen die Regierung Özal und konnte letztlich nur durch massiven Einsatz von Militär gestoppt werden. Damit wurde der innenpolitische Stimmungsumschwung in der Türkei eingeleitet, der letztlich in die Wahlniederlage Özals im November letzten Jahres mündete.

Trotz dieses Erfolgs stehen die Kumpel von Zonguldak jetzt wieder vor der Katastrophe. Der neue Ministerpräsident Demirel war zwar pflichtschuldig ans Schwarze Meer geeilt, allerdings erst nach dem Unglück. Investiert wurde bislang in den Kohlengruben immer noch nicht, statt dessen fordert die türkische Massenpresse nun die Schließung der Minen, weil sie so gefährlich sind. „Schließt diese Gruben“, titelte Sabah, keine Kohleförderung sei so viele menschliche Opfer wert. Jürgen Gottschlich

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