: Das Leben ist keine Butterwoche
Der russische Karneval: Ein aufmunternder Rückblick ■ von Barbara Kerneck
Was ist nur mit den Russen los? Haben sie etwa angesichts der ins Astronomische steigenden Preise völlig den Mut verloren? Noch im letzten Jahr wurden an einigen Enden Moskaus in der Butterwoche wenigstens Schneeberge errichtet — doch diesmal, seit dem 2.März, keine Spur davon: erst am bevorstehenden Sonntag soll im Gorki-Park mit Schlitten-Rennen der Winter verabschiedet werden. Inzwischen schmilzt der Schnee auf den Trottoirs, grau und öde dämmert die Stadt dem Frühling entgegen. Früher war jeder Tag in dieser achten Woche vor dem orthodoxen Osterfest so wichtig, daß er seinen eigenen Namen trug. Und wer sich jetzt nicht dem Karneval ergab, sich nicht auf die Schaukel schwang und auch nicht auf den Plätzen an Possenreißern ergötzte, der mußte entweder auf dem Sterbebett liegen oder beide Beine verloren haben. In der Butterwoche kannte die russische Freude am Feiern keine Grenzen. 1698 schrieb ein westeuropäischer Reisender entgeistert nach Hause: „Zu jener Zeit, da jedermann sein Herz reinigen und sich auf die Betrachtung der Leiden Christi vorbereiten sollte, verkauft das hiesige sündige Volk seine Seele dem Teufel. Während der ganzen Butterwoche reißen die Freßgelage Tag und Nacht nicht ab... Der hiesige Patriarch wollte schon lange mit dem dämonischen Fest Schluß machen“.
Aus der Fleischnot eine Tugend machen
Wegen ihres „umfassenden“ Charakters hieß diese Woche auch „breite Butterwoche“ (Schirokaja Masleniza), und der Patriarch hatte recht, wenn er in ihr heidnische Ursprünge witterte. Wie die römischen Saturnalien gingen diese Feiern auf Frühlingsfeste und Fruchtbarkeitsrituale der grauen Vorzeit zurück. Rein christlich betrachtet, begann in dieser Woche das vorösterliche „große Fasten“, doch im Unterschied zu den umfassenden Speiseeinschränkungen in den folgenden sieben Wochen war in der Butterwoche — sozusagen zum Eingewöhnen — erst einmal nur das Fleisch verboten. Die Russen machten aus der Not eine Tugend und erfanden eine derartige Menge von Butterwochen-Leckereien, daß die vegetarische Fettlebe schließlich die Fleischeslust übertraf.
Alles lutschte und kaute in den Budenstädtchen, die noch bis in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts im Zentrum am Moskwa-Ufer und auf dem Jungfrauen-Feld errichtet wurden, in den Theatern und in Rasguljai, dem Stadtbezirk der Traktire. Am Fluß erhoben sich von skurrilen Türmchen gekrönte Schneeberge, von denen man auf langen Schlitten herunterrutschen konnte — die Schlittenbahn mußte traditionell von zwei doppelten Tannenbaumreihen gesäumt werden, zwischen die noch die phantasievollsten Eisskulpturen gepflanzt waren. Die Kinder fuhren Karussell und bemühten sich dabei, mit Stöckchen außerhalb angebrachte Ringe zu erhaschen. Handwerker und Arbeiter, die sich keine Theaterbilletts leisten konnten, vergnügten sich in den Schaubuden. Die Plätze kochten vor Leben, die Bierstuben und Restaurants quollen über, und wer sich nicht zu Gast begab, der feierte zu Hause seinerseits mit Gästen. „Tatsächlich kennt der Karneval keine Einteilung in Darsteller und Zuschauer. Er kennt keinerlei Rampe, auch nicht in ihren embryonalen Formen... Den Karneval betrachtet man nicht, man lebt in ihm, weil er seiner Idee nach das ganze Volk umgreift. Und während sich der Karneval vollzieht, gibt es kein anderes Leben als das karnevalische. Man kann vor ihm nirgendwohin fliehen, denn der Karneval kennt keine räumlichen Grenzen. Das Feiertägliche ist hier zu einem zweiten Leben des Volkes geworden, in dem es zeitweilig das utopische Reich der Gemeinsamkeit, Freiheit, Gleichheit und des Überflusses betritt“. Dies schrieb nicht umsonst ein Russe: In den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts hat der Moskauer Literaturwissenschaftler Michail Bachtin die bisher umfassendste Analyse der mittelalterlichen Karnevalskultur und ihres Einflusses auf Kunst und Literatur der Neuzeit erstellt. Inspiriert von der Erfahrung der Butterwoche, erstellte er eine eigentümliche Theorie des „auf dem Platz lachenden Volkes“.
Bärenhatz und Fußhakeln: ein Volk, das feiert, empört sich nicht
Kampfspiele aller Art standen von alters her im Mittelpunkt der Festveranstaltungen. Bis ins 17.Jahrhundert hinein wurden Bärenhatzen auf dem gefrorenen Moskwa-Fluß veranstaltet, aber auch Einzelkämpfe kühner Recken mit Bären — eine russische Variante des Stierkampfes, die auf totemistische Rituale zurückgeht. Hinzu kamen Faustkämpfe und eine Moskauer Spezialität: das Fußhakeln. Mit der Zeit nahm die Moskauer Verwegenheit immer besser organisierte Formen an, und es blieb nicht beim Kräftemessen von Mann zu Mann. Der deutsche Gesandte Sigismund von Gerberstein berichtete im 16.Jahrhundert, daß ganze Faustkampfmannschaften durch „böses Pfeifen“ in der Stadt zusammengerufen wurden. Im 19.Jahrhundert baldowerten die Teilnehmer die Zusammensetzung der Phalancen schon eine ganze Woche im voraus in den Fabrik-Traktiren aus, und die sich messenden Parteien wählten vorher im gegenseitigen Einvernehmen „Kriegshäuptlinge“. Mit den Regeln nahm man es dabei sehr genau: auch wenn die Karnevalszoten unter die Gürtellinie trafen — den Fäusten war dies nicht gestattet. Worüber die Popen zu allen Zeiten wetterten, das diente der Fitneß und Geschicklichkeit der Bürger, und die Zaren sahen es nur allzugern: „Ein Volk, das singt und tanzt, führt nichts Böses im Sinne“, bemerkte Katharina die Große.
Auch wenn fair gekämpft wurde, so ist ein Element der Grausamkeit dem russischen Karneval doch nicht fremd. Von den Bärenhatzen war schon die Rede. In grauer Vorzeit wurden die für die Dauer der Frühlingsfeste gewählten Narrenkönige am Ende getötet, später verbrannte man in Rußland an ihrer Stelle Vogelscheuchen. Untermalt von Hörnern, Schellengebimmel und dem Tönen der „Gudki“ (dreisaitigen russischen Geigen) wurden in den Schaubuden nicht nur Kraftmeier, ägyptische Mumien und Ungeheuer vorgeführt, sondern auch der „Mensch mit dem eisernen Magen“, der unter anderem lebende Tauben verschlang. Noch bis in die zwanziger Jahre zogen in der Butterwoche Führer mit Tanzbären durch Moskau, denen man die Klauen und Zähne abgefeilt und oft auch die Augen ausgestochen hatte. Meist wurde solch ein Bärenführer von einer „Ziege“ begleitet, einem halbwüchsigen Jungen, der sich einen Sack mit angenähtem hölzernen Ziegenkopf überzog. Aus dessen Maul ragte eine hölzerne Zunge, die der Junge während des Bären-Tanzes ins Wackeln versetzte. Im Karneval verschwanden eben die Grenzen zwischen Tieren und Menschen, zwischen Menschen und Dingen, und Tierkostüme erfreuten sich größter Beliebtheit.
Erotische Kostüme in den Farbtönen „Erstickter Seufzer“ und „Reine Unschuld“
Das Kostümieren war eine Angelegenheit, die viel Kraft und Energie absorbierte, zumal in den Zeiten, als Belustigungen noch Angelegenheit der sich Belustigenden selbst war. Und nicht zuletzt spielten dabei auch Erwägungen erotischer Natur eine Rolle. Ein Jahr im voraus wurde in Rußland bisweilen mit dem Nähen der Kostüme, aber einfach auch der Festtagskleidung für den „großen Auftritt“ während der Butterwoche begonnen. Zur Zeit der bereits erwähnten Zarin Katharina waren dafür bei Hofe gerade die Farbtöne „Erstickter Seufzer“, „Reine Unschuld“ und „Bescheidene Klage“ in Mode. So sehr sich der Adel aber auch bemühte — und so weit auch die sozialen Grenzen in dieser Woche verschwammen: die Seele der Moskauer Butterwoche war und blieb die Kaufmannschaft. Mit ihren großen Familien bevölkerten die Kaufleute aus dem Bezirk jenseits des Flusses vom Montag an die Logen der Theater, wohin sie — damit die Kinderchen während der Vorstellung nicht verhungerten — Obst und Konfekt mitnahmen. Die Honoratioren selbst begaben sich in taillierten langschößigen Gehröcken während der Pausen mit ihren rollschinkenartig geschnürten und vor Brillianten funkelnden Gattinen und den modisch herausgeputzten heiratsfähigen Töchtern ins Buffet. Anschließend fuhr man nach Rasguljai in die Traktire von Patrikejew oder Testow, um Krebs- oder Störsuppe mit Pastetchen zu verspeisen.
Alexander Blocks Theaterstück: ein Karnevals-Sakrileg
Auch weniger wohlhabende Familien leisteten sich bisweilen solchen Luxus, denn für diese Tage hatte man das ganze Jahr über gespart. Währenddessen führten sich die Handwerker und später auch die Fabrikarbeiter an den Buden Sbiten (eine Art Glühwein mit Honig) und Dünnbier aus Buchweizen zu Gemüte, und dazu mundeten ihnen die Oladi (siehe Kasten) und süßen Hefekrapfen nicht minder als die feine Restaurantküche. Die Mädchen ließen ihre neuen grellen Kattunröcke auf den Schaukeln flattern, und die jungen Männer führten neue steife Tuchmützen mit bunten Lackschirmen spazieren. Nach den Vorstellungen traten die Musikensembles auf die an den Buden angebrachten Balkone hinaus: die Sängerinnen in russischen Sarafanen mit aufwendigem Kopfputz und ihre männlichen Kollegen in pelzbesetzten Halbkaftanen und runden Mützen mit Pfauenfedern. Ab Donnerstag kamen dann noch die Roben der Kaufmannsbräute in spe hinzu, die hier wieder auftauchten und den Rummel wichtigtuerisch in ihren Schlitten umkreisten.
Diese modische Vielfalt treffen wir zu Beginn unseres Jahrhunderts auf den primitivistischen Gemälden Natalja Gontscharowas und im Rayonismus, später Kubismus ihres Freundes Michail Larionow wieder an, die beide, in Anlehnung an volkstümliche Holzschnitte und Ladenschilder, in leuchtenden Farben Bauern, Fischer, Soldaten und Prostitutierte stilisierten. Oft signierten sie ihre Werke noch mit den zotigen Lockrufen der Schaubuden-Besitzer. Alexander Blocks Theaterstück Balaganschtschik (Die Schaubude), 1906 von Wsewolod Mejerhold inszeniert, stand an der Wiege des modernen russischen Theaters. Vieles daran empörte das gutbürgerliche Publikum: die respektlosen Possen der Hauptgestalt Harlekino, die burlesken Tanz- und Pantomime-Einlagen ebenso wie das Sakrileg an den zwölf Aposteln, die sich bei Block letztlich als kopflose Atrappen erweisen. Wladimir Majakowski führt diese Tradition in seiner Erstlings- Tragödie Wladimir Majakowski fort. Dort treten grotesk verkrüppelte und deformierte Gestalten auf den Plan, Kopflose, Einohrige, Einäugige und Einbeinige, eine Frau mit einer winzigen Träne und eine Frau mit einer Riesenträne inmitten eines von wachsender Erregung der Massen begleiteten „Aufstands der Dinge“. Majakowski und seine Futuristen- Freunde führten die Karnevalsmaskerade in den Altag ein — vom Radieschenstrauß im Knopfloch bis zum pissenden Hund, den sich David Burljuk bei entsprechender Laune schon mal auf die Wange pinselte.
Majakowskis „grotesker Körper“
Nicht nur die Verneinung jeglichen Kanons einer „künstlerischen Harmonie“ hat die russische Avantgarde aus den Traditionen der Butterwoche ererbt, in ihr wirkt vor allem die karnevalische Konzeption des menschlichen Körpers fort, wie sie Bachtin schildert: „Der groteske Körper grenzt sich nicht von der übrigen
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung von Seite 13
Welt ab, ist nicht in sich eingeschlossen, nicht vollendet, nicht fertig, er wuchert über sich hinaus und übertritt seine Grenzen. Akzentuiert werden jene Teile, wo er sich entweder der äußeren Welt öffnet, wo also die Welt in den Körper eindringt oder sich aus ihm ergießt, oder wo er sich selbst in die Welt ergießt, also die Öffnungen, die Auswölbungen, jegliche Verzweigungen und Auswüchse: der aufgesperrte Mund, das Gebärorgan, der Phallus, der dicke Bauch, die Nase. Der Körper enthüllt sein Wesen als wachsendes und aus seinen Grenzen herausstrebendes Prinzip...“
In die russische Literatur hat diese Perspektive schon ein dreiviertel Jahrhundert zuvor Nikolaj Gogol eingeführt — und mit ihr auch die marktschreierischen Anpreisungen und gewollten stilistischen Ungereimtheiten. Seine Toten Seelen sind nicht zuletzt eine karnevalistische Reise durch das Jenseits. So heißt es in einer frühen Variante des Romans: „Und wirklich, was gibt es doch für Gesichter auf der Welt. Keine Schnauze macht's so leicht, daß sie einer and'ren gleicht. Bei dem einen erfüllt die Nase Kommandeursfunktionen, bei einem anderen die Lippen, bei einem dritten die Wangen, die ihre Herrschaft sogar auf Kosten der Augen, der Ohren und selbst der Nase ausgedehnt haben, die aufgrund dessen nicht größer als ein Westenknopf wirkt; und der da hat ein so langes Kinn, daß er es allminütlich mit einem Taschentuch bedecken muß, um es nicht zu vollzusabbern. Und wie viele gibt's doch von der Sorte, die schon überhaupt nichts Menschenähnliches mehr an sich hat. Der da ist doch ein totaler Hund im Frack. Und dann hält er zu allem Überfluß auch noch ein Stöckchen in der Hand; so als müßte es ihm jetzt der erste Entgegenkommende wegschnappen...“
Bis in unsere Zeit haben die hier beschriebenen Gestalten in der bildenden Kunst überwintert. Aus den Kellergewölben und aus der Emigration sind sie in den letzten Jahren in die Galerien und Zeitschriften ihrer russischen Heimat zurückgekehrt: mit der ironischen Soz-Art, die Komar und Melamid veranlaßte, auf einem Gemälde den Genossen Stalin und Hitler in trauter Dreisamkeit ein Riesenreptil zuzugesellen; und auf den Bildern der Tatjana Nasarenko, die Moskaus Straßen mit Raubtieren bevölkert. Von den Straßen und Plätzen aber sind die Buffonaden im Laufe von sieben Jahrzehnten verschwunden. Noch einmal trieben sie eine hybride Notblüte in den Bürgerkriegsjahren: in den Massenumzügen zu den Jahrestagen der Oktoberrevolution, in Majakowskis Stück Misterium Buffo, das er selbst als „heroisches, episches und satirisches Abbild unseres Welttheaters“ affichierte. Daß das karnevalische Lachen weder die Führer noch die Sieger, nicht die Lachenden selbst und noch nicht einmal die Toten verschont, wurde ihm auf den russischen Straßen und Plätzen zum Verhängnis. Die eindimensionale Staatsideologie hatte für einen doppelten Boden keinen Raum.
Das Ende am Verzeihungs-Sonntag
Auch als die Butterwoche noch überschwenglich gefeiert wurde, fand sie jedes Jahr ihr Ende am Verzeihungs- Sonntag, an dem selbst Wildfremde Leute auf der Straße einander küßten und um Verzeihung baten, weil alle an allem mitschuldig sind. Gegen Abend wurde es ganz still in der Stadt. Leise glitten große Bauernschlitten über die Moskwa-Brücken, in deren seitlichen Ausbuchtungen Fässer mit den Zutaten für ein gewaltiges Kater-Frühstück ruhten: Salzgurken, Sauerkohl und verschieden marinierte Pilzchen. Und dann gingen alle in die Banja.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen