: Verwirrung nach dem irischen Abtreibungsurteil
■ Bei „Lebensgefahr“ soll nun auch späte Abtreibung möglich sein — ist „lediglich“ die Gesundheit in Gefahr, gilt das Verbot weiter/ Tragweite des Richterspruchs noch unklar/ Wird Maastricht-Zusatzprotokoll gestrichen?
Dublin (taz) — Ein Gerichtsurteil hat Irland auf einen Schlag grundlegend verändert. Die am Donnerstag vormittag noch restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas waren am Nachmittag plötzlich offenbar liberaler geworden, ohne daß auch nur ein Gesetz geändert wurde. Aber hat das Oberste Gericht mit seiner Urteilsbegründung, wonach bei Lebensgefahr für die Schwangere eine Abtreibung in Irland erlaubt ist, die rückständige Grüne Insel tatsächlich mit einem Tritt ins 20. Jahrhundert befördert?
Die Tragweite der richterlichen Entscheidung ist noch unklar, doch zunächst überwiegt die Schadenfreude: Die selbsternannten „Lebensschützer“ behaupteten 1983, als der Abtreibungsparagraph per Referendum völlig unnötigerweise — Abtreibung war laut Gesetz von 1861 ohnehin verboten — in die Verfassung aufgenommen wurde, daß die Formulierung wasserdicht sei. Sie würde das Abtreibungsverbot unwiderruflich festschreiben, während die Reisefreiheit davon nicht berührt würde.
Die höchsten irischen Richter haben daraus nun das glatte Gegenteil gelesen. Ist „lediglich“ die Gesundheit in Gefahr, kann man die Schwangere laut Gericht in Irland festhalten. Bei Lebensgefahr jedoch darf eine Abtreibung theoretisch bis kurz vor der Geburt erfolgen. Welcher Gutachter wird eine Selbstmordgefahr kategorisch ausschließen und eine Klage riskieren, falls er sich irrt? Darüber hinaus muß man aus dem Urteil folgern, daß das Anti-Abtreibungsgesetz von 1861 verfassungswidrig ist. Und wie steht es mit der Informationsfreiheit? Dasselbe Gericht hat vor nicht allzu langer Zeit bestätigt, daß die Weitergabe von Informationen über die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs in England strafbar ist.
Für die irische Regierung ist die Urteilsbegründung eine herbe Enttäuschung: Sie hatte gehofft, daß ihr dadurch die Arbeit abgenommen und die Diskussionen um das Maastrichter Abkommen verstummen würden. Das ist nicht der Fall. Sollte die Bevölkerung den Vertrag von Maastricht im Juni per Referendum ratifizieren, wäre schwangeren Frauen bei einem Ausreiseverbot fortan der Weg vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg versperrt, da Irland den Abtreibungsparagraphen in einem Zusatzprotokoll bestätigen ließ. Und dieser Paragraph beinhaltet laut Interpretation des höchsten Gerichts eben auch das mögliche Reiseverbot. Es liegt jetzt an den Politikern, dieses Protokoll streichen zu lassen. Andernfalls wird es bei dem Maastricht- Referendum nicht mehr um die europäische Einheit, sondern vor allem um die Reisefreiheit gehen. Und die meisten irischen Frauen werden sich die Beschneidung ihrer Rechte nicht auch noch von Brüssel absegnen lassen, selbst wenn sie strikt gegen Abtreibung sind.
Das Oberste Gericht hat am Donnerstag mehr Fragen aufgeworfen, als daß es Antworten gegeben hätte. Aber wenigstens haben die Richter die von der katholischen Kirche längst abgehakte Abtreibungsdebatte neu entfacht. Ralf Sotscheck
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