: Spaziergänge durch Buchseiten
■ Vom Brandenburger Tor bis zum verschwundenen Schloß — zwei Fotobücher mit Aufnahmen von Max Mißmann, Albert Schwartz und anderen Fotografen im Auftrage der Preußischen Meßbildstelle
Die Straße Unter den Linden kann unter ungünstigen Umständen ein Schicksal ereilen wie den Kurfürstendamm im Westen: Puff- und Burger-, Touristen- und Einkaufsmeile im Banne des Nepp. Und nichts scheint momentan darauf hinzuweisen, daß dieser gern als Boulevard bezeichnete Straßenzug von diesem Schicksal verschont bleiben könnte. Wie auch? — das Geld lechzt, wir leben im Kapitalismus, sind heiter, essen und trinken.
Die Linden runter...
Der Bummel »die Linden runter« wird — ohne über fotografierende Touristen zu stolpern — unmöglich werden. Der fließende und die Überquerung behindernde Verkehr wird — jedenfalls bei gegenwärtiger Haltung des gasgebenden Primaten — eher zu- statt abnehmen. Der beste Zeitpunkt für Stadtwanderungen also wird — wie schon jetzt — sein: Sommers in den frühesten Morgenstunden, während des Sonnenaufganges. Bei einem selten gesehenen Licht also.
Eine andere Flanier-Möglichkeit bietet uns ein Buch, das im Titel schlicht mit dem Straßennamen dieses Boulevards daherkommt. Und hier auch wieder: schwarz-weiße Ruhe, bildhafte poésie brute und eine schmackhafte Bild- und Textkombination — dank der rühmlichen Preußischen Meßbildstelle und dem Märkischen Museum, das diese Fotografien bewahrt.
Das Buch geht pragmatisch und systematisch vor — wie die BerlinerIn, die ihrem Besuch die Linden zeigt: man wandert die Strecke — von der Schloßbrücke beginnend, Richtung Brandenburger Tor — in Abschnitten ab. Zuvor jeweils ein kleiner Kartenausschnitt — dann los. Zu jedem Foto gibt es eine beschreibende und knapp kommentierende »Bilderläuterung« von Hans-Werner Klünner: Aufschluß gebend über die Bauzeit der Gebäude, die Architekten, Bauherrn, die Funktion der Gebäude, ihr Abriß, ihr jeweiliges Schicksal.
Im abschließenden Text (»Zu den Photographien«) erfahren wir auch (den oben erwähnten Touristen-Fotografen betreffend), daß laut einer polizeilichen Verordnung um 1900 »Photographen durch ihre Apparaturen belebte Straßen nicht blockieren durften«. Diese Verordnung ist heute — für gewisse Tageszeiten — zumindest einer Prüfung wert. Aber natürlich waren das auch wirkliche Apparaturen, die für das »Meßbildverfahren« eingesetzt wurden und über dessen Entstehung und Anwendung wir auch etwas erfahren: Dem Erfinder Meydenbauer gelang es nämlich, ein Verfahren zu entwickeln, komplizierte manuelle Vermessungstechniken an alten Bauwerken mit Hilfe eigens dafür entwickelter Geräte — sogenannte Meßkammern — zu ersetzen. Hierbei wird eine Aufnahme aus einem zuvor exakt festgelegten Winkel gemacht. Mit Hilfe einer bestimmten geometrischen Berechnungsmethode kann das Gebäude anhand des Positivs genau vermessen werden. Noch heute dient dieses mittlerweile verfeinerte Verfahren der Denkmalpflege und anderen wissenschaftlichen Disziplinen.
...zum Schloß
Die letzten Reste des Schlosses wurden 1950/51 gesprengt — »abgetragen«, wie es heute verniedlichend heißt. Manche wollen es wieder aufbauen, andere wieder eine stadträumliche Situation rekonstruieren, in der wenigstens die Kubatur des Schlosses auftaucht — mittels neuer Architektur: Eine Lösung, mit der man sich anfreunden kann ob der unbefriedigenden jetzigen Öde und Leere des Marx-Engels-Platzes.
Gelegenheit, diese Situation, den Stadtraum zumindest abstrakt erfahrbar zu machen, bietet die »Fotodokumentation der verlorenen Stadtmitte«, wie es im Untertitel zu dem Buch »Das Berliner Schloß« heißt, das ebenfalls vom Märkischen Museum und dessen Mitarbeitern Hela Zettler und Horst Mauter herausgegeben wurde. Nach einer Chronik des Schlosses und seiner Geschichte und einer mittlerweile obligaten Vorstellung der beteiligten Fotografen wird uns das Schloß von allen Seiten vorgeführt — und wir werden auch ins Innere einiger der rund 1.300 Zimmer geführt.
Was uns in dem Buch begegnet, macht erst einmal erschrocken über den Verlust an einem beredten Zeugnis für 200 Jahre Berliner Bau- und Wohnkultur, für den es keinen Ersatz gibt und geben wird. Über diesen Verlust kann das Buch nicht hinweghelfen. Wohl aber kann es leisten, daß die LeserIn sensibilisiert wird für die Bedeutung, die diese Bau- und Wohnkultur über die Grenzen Berlins hinaus hatte. Im Zweifelsfalle nämlich kann eine so erzeugte Bedeutungsmentalität auch einmal auf andere existierende, aber in ihrer Substanz bedrohte Zeugnisse Berliner Baukultur übertragen werden.
Heißt: die Denkmalspflege muß in jedem Falle einen über der Nostalgie stehenden Stellenwert im Bewußtsein aller an der Planung Berlins Beteiligten erlangen — und auch besser als bisher finanziell ausgestattet werden. Martin Kieren
Unter den Linden. Photographien. Mit einem Essay von Dieter Hildebrand. Bilderläuterungen von Hans-Werner Klünner, Nachwort von Jost Hansen. 136 Seiten. Argon Verlag, Berlin 1991, DM 68.
Das Berliner Schloß. Eine Fotodokumentation der verlorenen Stadtmitte. Hrsg. von Hela Zettler und Horst Mauter. 140 Seiten. Argon Verlag, Berlin 1991, DM 68.
In beiden Büchern sind die Fotografien im mittlerweile bei diesem Verlag obligaten Duoton-Verfahren gedruckt.
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