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Nach dem Abzug die Angst vor den Fremden

■ Das sächsische Städtchen Leisnig und Bünde in NRW sind Partnerstädte/ Nächstes Jahr ziehen aus Leisnig die Soldaten der ehemaligen sowjetischen Armee ab, aus Bünde eine Kompanie der britischen Rheinarmee/ VON BETTINA MARKMEYER

Leisnig (taz) — In langen Mänteln kratzen ein paar russische Soldaten Schnee vom Bürgersteig entlang der Kasernenmauer, nicht mit Schneeschiebern, sondern mit großen Sperrholzplatten, die sich durchbiegen. Hinter ihnen erheben sich, ehemals weiß, heute grau, die Kasernen. Jenseits der Betonumfriedung auf einen Hügel gebaut, wirken die Jahrhundertwendebauten höher, als sie sind, und durchaus bedrohlich. Wenn auch mit Pappe ausgeflickte Fenster, löchrige Dächer und die umfassende Verwahrlosung dem Hab-Acht-Gepräge dieses Ortes an der westlichen Stadtgrenze von Leisnig den rechten Ernst nehmen. Am Haupttor verweisen der rote Stern und das kyrillische „CA“ (Sowjetskaja Armija) auf eine Armee, die es nicht mehr gibt.

Der Schmiedemeister Manfred Schneider lacht oft, wenn er über die Garnison spricht. Seit seiner Geburt lebt er im Haus seiner Eltern am Hasenberg der Kaserne gegenüber. Er lacht, wenn er sagt: „Die sind mit ihren Fahrzeugen recht robust umgegangen.“

Er meint, daß die Soldaten mit Panzern und Lastern keinen Zaun ganz ließen, Feldwege in Kraterlandschaften verwandelten und sich einen Dreck um Schadenersatz kümmerten. Manfred Schneider lacht auch, wenn er sich erinnert, wie ihm bei Reparaturarbeiten auf dem Kasernengelände „das Werkzeug unter dem Hintern weggemaust“ wurde und er anschließend auf weitere Aufträge von den sowjetischen Militärs verzichtete.

Eigentlich war und ist der Schmiedemeister aber gar nicht gut zu sprechen auf die Russen vor seiner Haustür, doch er „will nicht schimpfen“. Vierzig Jahre Vorsicht, „das steckt noch drinnen“. Er ist bloß froh, „richtig erleichtert, daß die weggehen und wir wieder unsere Ruhe haben“. Eine Straße weiter erinnert sich der Ingenieur Wolfgang Hörich, der heute ein Reisebüro betreibt, daß die Stasi versuchte herauszubekommen, was neben den Kasernen passierte. „Wenn Besuch dagewesen war“, so erinnert sich Hörich, erschienen die Schnüffler bei ihm auf der Arbeit „und wollten jedes Autokennzeichen wissen“.

Durch die ganze Stadt und quer durch alle politischen Parteien geht nun ein Seufzer der Erleichterung über den Russen- Abzug. Zwar sind die Militärs mit dem Zusammenbruch der UdSSR auch in Leisnig zugänglicher geworden — obwohl bis auf Ausnahmen der Kontakt zur deutschen Bevölkerung weiter verboten ist — doch sucht von den einheimischen „Normalsterblichen“ (Schneider) niemand Umgang mit ihnen. Man wartet, daß sie endlich gehen. Nur der ehemalige Ortsparteisekretär Wermann ist noch heute der Meinung, die Blumen „aus'n eigenen Garten“, die Leisniger Kindergartenkinder den Soldaten zu den verordneten Zusammentreffen mitbrachten, seien Ausdruck wirklicher Freundschaft gewesen. „Die Masse der Leisniger“, stellt Wermann fest und blickt unbestimmt in die Ferne, „hat sich jedenfalls nicht gegen die Garnison ausgesprochen.“ Das stimmt, ausgesprochen hat sich die Masse nicht.

Der Abzug der GUS-Militärs beendet Leisnigs 200jährige Geschichte als Garnisonsstadt. Das in Mittelsachsen, auf halber Strecke zwischen Leipzig und Dresden gelegene, gut erhaltene und anmutig oberhalb der Freiberger Mulde erbaute Städtchen mit 9.000 EinwohnerInnen beherbergte in den beiden großen Kasernen rund 1.500 Soldaten, außerdem Familienangehörige.

Nach dem Abzugsplan für Sachsen will die GUS-Armee ihre Mannen bis zum Frühjahr 1993 aus Leisnig und Grimma abziehen — wenn alles nach Plan verläuft. Der agile Nach- Wende-Bürgermeister Heiner Stephan (CDU), der im Rathaus am Markt vor Ungeduld mit den Fingern trommelt, ist da skeptisch. Er braucht das Kasernengelände dringend für Gewerbebetriebe. Leisnigs Gassen sind steil: „Das da draußen“, sagt Stephan, „sind die einzigen ebenen Flächen, die wir hier haben“ — mit Wasser-, Abwasser- und Gasanschluß dazu.

Stephan hat bei diversen Treffen Leisnigs Situation mit der westlicher Garnisonsstädte verglichen: „Dort fängt das Chaos erst an, wenn die Amerikaner in großem Stil abziehen. Wir hatten das Chaos jahrelang und wollen es nun beenden.“ Arbeitsplätze wie im Westen gehen durch den Abzug der Russen nicht verloren, im Gegenteil: Die Soldaten arbeiteten mit in der Obsternte, die Frauen der Offiziere in der inzwischen von Philipp Morris übernommenen und nach Dresden verlagerten Leisniger Zigarettenproduktion („Karo“).

Die Stadtverwaltung träumt nun von einer Stadthalle, einem Festplatz, einem Altenheim auf dem Gelände der einen, von Gewerbe auf den Flächen der zweiten Kaserne. Aber dort, wo die Russen ihre Panzerwäsche haben, „können wir nur Birken hinpflanzen und erledigt“, seufzt der Bürgermeister. Altlasten könnten auch die Gewerbeansiedlung vermasseln, noch ist das Gelände nicht untersucht. Keiner weiß, wo beispielsweise das Altöl geblieben ist, nachdem es den Sowjets noch zu SED-Zeiten abgewöhnt worden war, die Altschmiere einfach über die städtische Kanalisation zu „entsorgen“.

Wie die Partnerstadt Bünde will auch die Leisniger Bevölkerung vor allem eins nicht: daß „Asylanten“ in die Kasernen einziehen. Ein brutaler Anschlag auf Flüchtlinge in den Saisonarbeiterbaracken bei den Leisniger Obstplantagen im Februar vergangenen Jahres, bei dem mehrere AsylbewerberInnen schwer verletzt wurden, hat Leisnig bereits einschlägig bekannt gemacht. Die Täter kamen aus der Gegend.

Auch der Bürgermeister möchte seine Pläne für das Kasernengelände nicht durchkreuzt sehen; vor allem aber ist er gegen Sammellager: „Da können sich die Leute doch gleich zu Hause einsperren lassen.“ Weder will er Flüchtlinge derartig behandelt sehen, noch will er die Probleme mit den Einheimischen am Hals haben. Daran ändert auch der Funken Mitgefühl nichts, den die meisten LeisnigerInnen inzwischen für die russischen Soldaten aufbringen. „Daß viele von denen lieber hierbleiben wollen“, können auch der Schmied Schneider und Wolfgang Hörich in seinem Reisebüro verstehen, angesichts des Elends, das die GUS-Soldaten zu Hause erwartet. Für „Asylanten“ aber, „die hier nur Geld holen wollen“, haben die beiden Herren „überhaupt keen Verständnis. Die haben hier nischt zu suchen.“

Bünde (taz) — Ein Jogger in kurzen schwarzen Hosen überquert die Landstraße zwischen den „Birkwood Barracks“ und der Eigenheimansammlung namens Holsen, stolpert einmal und schnauft grußlos an den beiden Frauen vorüber. „Tja“, meint die Ältere, „die machen ihr Jogging hier. Und sonst...“ Und sonst weiß sie wenig zu sagen über die britischen Soldaten, die jenseits des Schäferwegs, der Holsen von den flachen Briten-Baracken hinter Maschendraht wie eine Demarkationslinie trennt, ihren Dienst in Germany tun. Oder sollte sie vielleicht noch erzählen, sinniert die Holsenerin und schwenkt ihre kunstlederne Einkaufstasche, daß übermütige Soldaten einmal ihre „Blumentöpfe ramponiert“ haben? Aber sie sei schließlich nicht nachtragend. Bei einem Besuch in der sächsischen Partnerstadt Leisnig konnten sich die Frauen zudem überzeugen, „daß die es da ja mit ihren Russen viel schlimmer getroffen hat“.

Christiane Thilker wohnt mit Mann und Baby erst seit kurzem gegenüber dem Camp. Ihr Mann, der hier geboren ist, erinnert sich, daß es früher öfter Ärger mit den Soldaten gab, wegen zerbeulter Autos oder nächtens ausgehängter Gartenzäune. Zu Christiane Thilkers früherer Clique gehörten aber immer auch ein paar britische Soldaten. „Viel geredet über ihren Dienst haben die nicht“, mehr über Geld, Autos und Musik— worüber knapp 20jährige eben so reden. Eine ihrer Freundinnen ist mit einem Engländer verlobt. In Bünde, dem nächstgrößeren Städtchen in dieser ländlichen, stark zersiedelten Gegend Ostwestfalens sind englisch-deutsche Ehen eine häufige Erscheinung. Die bleiben, wenn die Militärs nun gehen. Die königlich-britische Transportkompanie aus den „Birkwood Barracks“ soll bis zum März nächsten Jahres geräumt werden. Die Rheinarmee, überwiegend in Nordrhein- Westfalen und Niedersachsen stationiert, reduziert ihre Truppen von rund 75.000 Mann um die Hälfte. Aus Bünde werden 750 Soldaten mit rund 500 Familienangehörigen abgezogen.

Die Kaserne liegt in der Gemeinde Rödinghausen. Die Wohnblocks der britischen Offiziere befinden sich samt eigener Schule, Kindergarten und Supermarkt in Bünde, das neben einem Tabakmuseum, Fußgängerzone und Autobahnanschluß vor allem ein von Straßen und Verkehr zerschnittenes Antlitz zu bieten hat.

Der Abzug der seit Kriegsende präsenten britischen Militärs löst nirgendwo in der Stadt nennenswerte Gemütsregungen aus. Weder macht sich Erleichterung breit, noch trauert man den Beschützern nach. 56 Zivilangestellte der Briten müssen sich neue Arbeitsstellen suchen, und ein Servicebetrieb, der ausschließlich für die Briten malerte und schweißte, steht ohne Aufträge da. Die Bünder Stadtverwaltung hat großes Interesse an den freiwerdenden Wohnungen, falls das Bundesvermögensamt der Stadt ein Vorkaufsrecht einräumt.

Zwei Sorten Soldaten: Verheiratete & Ledige

Für die BünderInnen gab es immer zwei Sorten von englischen Soldaten: die verheirateten und die unverheirateten. Die Verheirateten sind ruhig und unauffällig. Mit den unverheirateten jugendlichen Soldaten dagegen, die im eingeschränkten ostwestfälischen Nachtleben gelegentlich auch rabiat nach Unterhaltung suchen, funktioniert das unterkühlte Nebeneinander, das man in Bünde „gute Nachbarschaft“ nennt, nicht. Horst Glösemeier, Besitzer der einzigen Bünder Disco „Wilhelmshöhe“, hat sein nur am Wochenende geöffnetes Etablissement „schon vor Jahren“ für die Engländer gesperrt. „Die wissen“, windet sich Glösemeier, um nicht von Lokalverbot sprechen zu müssen, „daß sie sich bei uns nicht wohlfühlen.“ Im Klartext: Eine Generation Rekruten gibt an die nächste weiter, daß sie es auf der „Wilhelmshöhe“ gar nicht erst zu versuchen brauchen. „Wir haben keine englischen Gäste mehr“, meldet der Disco- Boß zufrieden.

Einige britische Offiziere fanden dagegen den Weg in einen artverwandten deutschen Verein, die Bünder Schützengesellschaft von 1838 e.V.. Einmal im Jahr trifft man sich am Schießstand unterhalb des Stadtgartens zum Kleinkaliberschießen, einmal im Jahr laden die Engländer die deutschen Schützenbrüder und -schwestern zur Cocktail-Party, und jedes Jahr im Januar steigt der Winterball der Schützen, zu dem wiederum die Offiziere gebeten werden.

Ihren Höhepunkt erlebten diese britisch-deutschen Freundschaftsrituale im letzten Jahr. Da sagten die Schützen „aus Solidarität“ mit der an den Golf verlegten Transportkompanie ihren Winterball ab und holten ihn im Mai, nachdem sie sich vergewissert hatten, daß „keine Verluste“ zu beklagen waren, als Frühlingsball nach.

Angst vor den „Zigeunern“

Daß eine Nachbarin der Offiziersfamilien in Bünde wie Frieda Haendel die dürftigen deutsch-britischen Kontakte nunmehr als „100prozentige Nachbarschaft“ hochjubelt, hat weniger mit dem bevorstehenden Abzug der Truppe als mit möglichen NachfolgerInnen zu tun: „Ich hoffe ja nicht“, meint die resolute Rentnerin, die bei den Militärs als Köchin gearbeitet hat, „daß die uns hier irgendwie so was Ungemütliches reinsetzen wie Zigeuner.“

Nach massiven Bürgerprotesten verbannte die Stadt Bünde im letzten Jahr rumänische Roma aus Unterkünften im Stadtgebiet in ehemalige Obdachlosenbaracken zwischen Bahngleisen und Autobahn auf dem platten Land. Auch in Rödinghausen verfinstern sich die Minen völlig, wenn von der zukünftigen Kasernennutzung die Rede ist. Bonn hat den Standort als Sammelunterkunft vorgeschlagen. Die Gemeindeverwaltung will ein Gewerbegebiet. Keiner will die Flüchtlinge.

Christiane Thilker spricht in ihrer Küche unbefangen aus, womit ihre Nachbarinnen lieber noch hinter dem Berg halten: „Hier in der Siedlung glauben alle, wir können die Wäsche nicht mehr raushängen, wenn Asylanten in der Kaserne sind.“ Dasselbe kann man ein paar hundert Kilometer weiter östlich in der sächsischen Partnerstadt Leisnig hören.

Wenn Kasernen in Sammellager umgewandelt werden sollen, können sich die Lebensverhältnisse in Deutschland-Ost und Deutschland-West ganz schnell vollkommen angleichen.

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